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Menschenkinder

Menschenkinder

Titel: Menschenkinder
Autoren: Herbert Renz-Polster
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sozial eingebunden sein, sie wollen für ihre Kompetenz wertgeschätzt sein und sie wollen mitentscheiden können. An diesen drei unsichtbaren Schnüren – Verbundenheit, Kompetenz und Autonomie – hängt unsere Zufriedenheit, sie halten uns gesund und leistungsstark (das ist der Grund, weshalb sich eine Langzeitarbeitslosigkeit auf die Lebenserwartung kaum weniger verheerend auswirkt als eine Krebsdiagnose – da werden oft ja alle drei Schnüre gleichzeitig gekappt!).
    Deshalb sollte man auch der Verlockung widerstehen, Kinderarmut nur als ein rein materielles Problem zu sehen, wie es etwa in dem Kommentar von Altbundeskanzler Helmut Schmidt aus dem Jahr 2009 anklingt: »Manches, was man heute als Armut beklagt, wäre in meiner Kindheit beinahe kleinbürgerlicher Wohlstand gewesen.« Kinder in armen Verhältnissen leben auch dann nicht in »Wohl«stand, wenn sie mehr materielle Mittel haben als die meisten Menschen in der Geschichte der Menschheit – wir hätten sonst ja hierzulande den Sprung ins Paradies geschafft. Was armen Kindern fehlt, ist nicht die besonders wertvolle Ausrüstung. Vielmehr leben sie oft (wenn auch nicht immer) in einem Milieu, in dem soziale Teilhabe, Wertschätzung und Erfahrung der eigenen Kompetenz nur wenig im Angebot sind. Und das ist ein schweres Handicap für die kindliche Entwicklung.
    Dass das Balancemodell keine bloße Theorie ist, lässt sich auch im internationalen Vergleich nachweisen. So geht es einer Gesellschaft auf allen Ebenen umso schlechter, je mehr Ungleichheit in der Gesellschaft herrscht – egal auf welchem Reichtumsniveau. Ausgeglichene Gesellschaften haben eine geringere Kriminalität, eine höhere Lebenserwartung – und gesündere Kinder.

    Das ist leicht zu verstehen. Ungleichheit steht für ein hohes Maß an Konkurrenz und wenig Kooperation. Was zählt, ist die wirtschaftliche Produktivität des Einzelnen – die andere Seite der »menschlichen Medaille«, Interessenausgleich, Kooperation und soziale Einbindung, wird kleingeschrieben.
    Die verlorene Balance trifft Menschen mit Fürsorgepflichten am härtesten. Diejenigen, die mit ihrem Leben etwas so Unproduktives anfangen wie Kinder versorgen, landen da ziemlich punktgenau am Rand der Gesellschaft. Sie erhöhen mit dieser Tätigkeit ja nicht ihre Produktivität oder ihren Wert auf dem Arbeitsmarkt – im Gegenteil.
    Tatsächlich sind seit dem Beginn der Globalisierung in Deutschland Erwachsene mit Kindern bei den Realeinkommen immer weiter abgehängt worden. Zumindest in der unteren Mittelschicht stellen Kinder inzwischen sogar ein Armutsrisiko dar. Erwachsene stehen da in vielen Fällen tatsächlich vor der Wahl, entweder ihre soziale Position zu halten oder eben Kinder zu haben. Man darf den Vergleich nicht scheuen: Während die Bundesregierung hektisch Rentengarantien abgibt, vernachlässigt sie die, die überhaupt erst dafür sorgen, dass einmal Renten ausgezahlt werden können.
    Aus evolutionärer Sicht könnte man es auch so sagen: Wenn sich Menschengruppen zu weit von dem angestammten Lebensmodell eines Homo sapiens entfernen, fallen Kosten an. Und die haben vor allem diejenigen zu tragen, die am meisten auf Kooperation angewiesen sind – nämlich die Kinder.
    Freude am Erziehen
    Dass es immer weniger Kinder in Deutschland gibt, ist kein »Gebärstreik« der Frauen, wie es gerne gesehen wird: Die moderne Frau habe vor lauter Emanzipation und Selbstverwirklichung keine Lust mehr auf Kinder. Das verkennt eine wichtige Tatsache:
Eigentlich macht das Leben mit Kindern Spaß, und zwar nachhaltigen, tiefgründigen Spaß, und wo immer junge Paare ausreichend Unterstützung bekommen, wählen sie ein Leben mit Kindern – nicht jedes Paar, aber die meisten. Das zeigt ja gerade der europäische Vergleich. Moderne Frauen nehmen sehr wohl die Option Mutterschaft wahr, wenn die Umstände es zulassen – skandinavische Frauen zeigen das seit vielen Jahren. »Die Politik muss sich endlich zu der Einsicht durchringen, dass es erst dann wieder mehr Kinder geben wird, wenn es auch Freude macht, sie großzuziehen«, sagt dazu Remo Largo, der Nestor der europäischen Entwicklungspädiatrie. Man muss da nicht den Frauen die Schuld in die Schuhe schieben.
    In Wirklichkeit sind es nämlich nicht die Frauen, die streiken, sie werden bestreikt – von der Gesellschaft. Denn diese hat für kurzfristige wirtschaftliche Ziele den evolutionären Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, der immer die Grundlage dafür war, dass die
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