Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Schultern.
»Was weiß ich«, fauchte der später Dazugestoßene, »fragen Sie einfach drin die Chefin.«
Die ›Chefin‹ war eine etwa 45-jährige Ärztin, die, mit einer Infusionsflasche in der Hand, neben der auf dem abgewetzten tannengrünen Sofa liegenden Regina Priester stand.
»Was wollen Sie denn hier?«, brummte sie.
»Kripo Kassel«, erwiderte Lenz und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe.
»Haben Sie sie gefunden?«, kam es leise von unten.
Der Hauptkommissar schluckte.
»Nein, leider nicht«, log er. »Aber wir sind dabei. Was ist mit Ihnen?«
»Die Wehen haben vor einer halben Stunde eingesetzt. Eben dachte ich schon, dass es kommen würde, aber die Frau Doktor sagt, es würde noch ein bisschen dauern. Aber spätestens in vier Stunden ist es da.«
»Und deshalb«, mischte die Ärztin sich ein, »müssen wir Frau Priester jetzt ins Auto laden und ins Klinikum bringen, damit das Baby nicht am Ende noch in unserem Notarztwagen zur Welt kommt, oder?«
Damit tätschelte sie den Arm der Frau auf dem Sofa und Lenz fragte sich, ob sie dabei mehr an die werdende Mutter oder die eventuelle Geburt im Auto und die für sie und ihre Mannschaft daraus resultierenden Unannehmlichkeiten dachte.
»Aber sonst ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, wollte Hain wissen.
»Ja«, antwortete Regina Priester schnell. »Nur die Sache mit dem Kleinen ist noch nicht geklärt. Die Frau Doktor meint, er sollte am besten mit uns kommen, aber …«
»Das müssen die im Klinikum entscheiden«, wurde sie von der Ärztin unterbrochen. »Ich warte auf den Rückruf. Oder haben Sie eine Idee«, wandte sie sich an die Polizisten, »wo der andere Sohn von Frau Priester unterkommen könnte, solange sie im Krankenhaus ist?«
»Nein«, erwiderten beide wie aus einem Mund.
»Das hätte ich mir auch nicht denken können«, ätzte sie. »Also, wenn nichts mehr zu klären ist, würde ich gerne noch ein paar Untersuchungen an meiner Patientin durchführen, bis wir das Okay aus dem Klinikum haben.«
»Ja, klar. Wir besuchen Sie, wenn es passt, im Krankenhaus, Frau Priester.«
»Ja, gerne. Und wenn Sie Fritz und Ottmar finden sollten, sagen Sie ihnen bitte Bescheid, wo ich hingebracht worden bin.«
»Klinikum Kassel, Entbindungsstation«, ergänzte die Rettungsärztin mit Blick auf die Polizisten. »Und jetzt raus hier, bitte.«
In diesem Augenblick schob sich der erste Rettungssanitäter in den Raum, gefolgt von einer Trage und seinem Kollegen.
»Bis dann«, meinte Lenz aufmunternd zu Regina Priester, warf Hain einen zum Aufbruch mahnenden Blick zu und verließ das Zimmer.
*
»Waren wir jetzt feige oder waren wir vernünftig?«, wollte der Oberkommissar wissen, als sie in einem Café in Bettenhausen an einem kleinen Bistrotisch saßen und zwei dampfende Tassen Cappuccino vor ihnen standen.
»Beides«, erwiderte Lenz mit einem Griff zu seinem Getränk.
»Aber was hätten wir machen sollen? Einer kurz vor der Entbindung stehenden Frau sagen, dass gleich beide potenziellen Väter das Zeitliche gesegnet haben? Beim besten Willen nicht«, lieferte er die Antwort gleich mit.
»Nein, nein, das war schon richtig«, stimmte sein Kollege ihm zu. »Aber wir können halt auch nicht verhindern, dass sie irgendwann in den nächsten Tagen die Zeitung aufschlägt und es liest.«
»Ohne ihr zu nahe treten zu wollen, aber Regina Priester sieht für mich nicht so aus, als würde sie regelmäßig Zeitung lesen.«
»Du bist und bleibst ein elender Chauvinist«, tat Hain künstlich empört.
»Ja, klar, und weißt du was? Ich bin es gerne. Ich bin es gerne, weil die Wahrheit einfach ausgesprochen werden muss, und basta. Wenn ich denke, dass eine Regina Priester zwischen den Ohren zu einfach gestrickt ist, um eine Zeitung zu lesen oder zu verstehen, dann spreche ich es aus. Wenn das chauvi ist, dann ist es das eben.«
»Ho, ho, Brauner …«, wollte Hain seinen Vorwurf präzisieren, wurde jedoch vom Klingeln seines Telefons unterbrochen.
»Ja, Hain«, meldete er sich und lauschte mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Interessant. Wir sind gleich bei dir.«
Damit drückte er auf die rote Taste und steckte das Gerät zurück in seine Daunenjacke.
»Das war Lemmi. Wir sollen bei ihm vorbeikommen, er hat ein paar Informationen für uns.«
»Hat er gesagt, worum es genau geht?«
»Nein. Aber er hat gemeint, dass sie von Interesse für uns sein könnten.«
»Dann machen wir uns am besten gleich los, oder?«
»Nein. Jetzt trinke ich in
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