Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
Seite ein großes Stück fehlte. Seitlich in der anderen Hofecke, hinter einem Maschendrahtzaun, gab es noch einen Steinmetzbetrieb, dessen dunkle Fenster aber darauf hindeuteten, dass dort im Augenblick nicht gearbeitet wurde.
Hain, der auf dem Bürgersteig neben Lenz angekommen war, schob das große Tor nach innen und betrat den Hof.
»Willst du hier warten und unseren Rückzug sichern oder kommst du mit?«
»Nein, nein, ich komme schon.«
Gemeinsam strebten die Polizisten auf die Halle zu, bis sie vor dem rechten Tor angekommen waren. Hain lugte durch einen Spalt, schüttelte jedoch mit dem Kopf.
»Zu dunkel, ich sehe nichts. Wollen wir es mal am Fenster drüben versuchen?«
Mit einem stummen Kopfnicken trabte sein Chef los bis zur Ecke, überquerte im Entengang die Schneefläche und spähte kurze Zeit später in das blinde Fenster.
»Auch Fehlanzeige. Die Scheibe ist komplett milchig.«
»Willst du meine Taschenlampe haben?«, fragte Hain, der an der Ecke stehen geblieben war.
»Nein, das bringt nichts. Entweder, wir besorgen uns was Offizielles, oder …«
Das freundliche, optisch jedoch für ihn nicht zuzuordnende Hallo einer Frauenstimme unterbrach seine Ausführungen. Hain drehte den Kopf nach links.
»Guten Tag«, erwiderte er ebenso freundlich in diese Richtung. »Keine Angst, wir sind keine Einbrecher, ganz im Gegenteil. Wir sind von der Polizei.«
Lenz, der mit schnellen Schritten die etwa acht Meter hinter sich gebracht hatte und wieder neben seinem Kollegen stand, erkannte an der Tür des adretten Hauses eine Frau von etwa 40 Jahren mit rundem Gesicht und rostroten Locken, die mit verschränkten Armen auf der Treppe stand.
»Ach so, die Polizei«, gab sie keinesfalls überrascht, sondern eher belustigt zurück.
Die beiden Beamten gingen langsam auf sie zu.
»Unser plötzliches Auftauchen scheint Sie nicht sehr zu überraschen«, formulierte Lenz seinen Eindruck sehr direkt.
»Nein. Sie kommen bestimmt wegen der Hallenmieter, diesen beiden Brüdern. Mein Mann und ich haben schon länger mit Besuch von der Staatsmacht wegen ihnen gerechnet.«
Lenz streckte die rechte Hand nach vorn, doch die nur durch eine dünne Leinenbluse unzureichend gegen die Kälte geschützte Frau machte keine Anstalten, seine Begrüßung zu erwidern. Auch ihr Blick blieb starr zwischen den Polizisten hindurch auf den Baum gerichtet, der hinter ihnen stand.
»Nehmen Sie es mir bitte nicht übel«, meinte sie stattdessen, »wenn ich ein wenig unhöflich wirke, aber ich kann Sie nicht sehen. Ich bin blind. Immerhin weiß ich aber, dass Sie zu zweit sind.«
»Das macht gar nichts, Frau …?«
»Röder. Ich heiße Petra Röder.«
»Und ich bin Hauptkommissar Paul Lenz, und neben mir steht mein Kollege Thilo Hain.«
»Dienstausweise haben Sie dann bestimmt auch?«, wollte Petra Röder wissen.
»Klar«, erwiderte Lenz und kramte, ebenso wie sein Kollege, seinen Dienstausweis hervor. Die Frau streckte die linke Hand nach vorn, ließ sich die beiden Plastikkarten hineinreichen und tastete sie kurz ab.
»Leider gibt es darauf keinen Hinweis in Blindenschrift«, räumte Hain bedauernd ein.
»Das macht gar nichts. Ich wollte nur sichergehen, dass Sie mir nicht Ihre EC- oder Kreditkarten unterjubeln. Aber die Art, wie Sie nach den Dingern gegriffen haben, macht mich schon sicher. Vielen Dank.«
Damit reichte sie die Ausweise zurück.
»Schön, dass Sie uns vertrauen. Sind Sie die Vermieterin der Halle, Frau Röder?«
»Nein«, gab sie lachend zurück. »Das sind wir zum Glück nicht.«
»Warum macht Sie das so froh?«, wollte Hain wissen.
»Ach«, begann sie zögernd, »ich will lieber nicht schlecht reden über Menschen, die nicht anwesend sind.«
»Und wenn wir Sie bitten würden, mal eine Ausnahme zu machen? Weil wir von der Polizei sind und weil wir uns für die Aktivitäten der beiden Brüder interessieren.«
Petra Röder dachte kurz nach.
»Warten Sie bitte einen Augenblick«, fuhr sie dann fort, »ich will mir nur was überziehen.«
Damit schlüpfte die blinde Frau zurück ins Haus und schloss die Tür hinter sich. Lenz und Hain mussten etwa eine Minute warten, bis sie, in eine dicke Daunenjacke gehüllt, wieder auftauchte.
»So ist es viel besser«, beschied sie die Beamten. »Und jetzt können Sie mich gerne ausfragen. Ich verspreche Ihnen auch, dass ich mich nicht zurückhalte, was meine Meinung über unsere Nachbarn angeht.«
»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Röder«, bedankte Lenz sich artig,
Weitere Kostenlose Bücher