Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
von Blindenbüchern mache, was eine Heimarbeit ist, deshalb hat das so gut gepasst. Außerdem waren das alles nette, ältere Herren, mit denen es sich gut auskommen ließ. Mein Mann und ich haben es sehr bedauert, als sie den Hof verließen und in eine größere Halle umzogen.«
»Man könnte aus Ihren Worten schließen, dass sie, natürlich rein hypothetisch, gegangen sind, ohne sich an den bei Ihnen hinterlegten Schlüssel zu erinnern.«
»Ja, das könnte durchaus so gewesen sein«, erwiderte sie wieder mit einer gehörigen Portion Schlitzohrigkeit.
»Hm«, machte Lenz nach einer Weile des Nachdenkens, »wenn ich es recht überlege, könnte Ihnen niemand irgendein unrechtmäßiges Verhalten aus der Tatsache ableiten, dass fremde Menschen einen Schlüssel bei Ihnen vergessen, Frau Röder. Ganz im Gegenteil, Sie könnten der Staatsmacht , wie Sie uns genannt haben, damit eine große Hilfe sein.«
»Wirklich? Sie verkohlen mich auch nicht und sagen in dem Moment, in dem Sie den Schlüssel haben: Ätsch, wir haben nur Spaß gemacht, und Sie sind jetzt verhaftet ?«
»Ehrenwort, Frau Röder, das wird nicht passieren.«
Wieder eine kurze Bedenkzeit.
»Gut, ich verlass mich auf Sie.«
Damit trat sie zurück und verschwand erneut im Haus. Diesmal jedoch dauerte es keine zehn Sekunden, bis ihr grinsendes Gesicht wieder in der Tür auftauchte. In der rechten Hand hielt sie einen altertümlichen, großen Bartschlüssel, den sie den Polizisten entgegenstreckte.
»So, jetzt entscheidet sich, ob Sie Ehrenmänner sind oder böse Bullen, wie man sie im Fernsehen öfter zu hören bekommt.«
Lenz griff nach dem Schlüssel und nahm ihn der Frau aus der Hand.
»Danke, Frau Röder. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir fertig sind.«
»Gerne. Ich bin oben.«
Damit fiel die Tür ins Schloss, und die beiden Polizisten konnten ein fröhliches, sich entfernendes Pfeifen hören.
»Die war ja cool«, entfuhr es dem Hauptkommissar, als er mit dem Schlüssel in der Hand vor dem großen Tor stand und versuchte, ihn in die dafür vorgesehene Öffnung zu fummeln.
»Finde ich auch. Blind, aber auf keinen Fall doof«, bestätigte Thilo Hain.
Nun drehte sich der Schlüssel mit einem quietschenden, knarrenden, an Schulkreide auf einer Tafel erinnernden Geräusch im Schloss. Lenz kurbelte zweimal, dann hatte er den Anschlag erreicht, griff zur Türklinke, drückte sie mit einer kraftvollen Bewegung nach unten und zog daran.
Das Erste, was den Beamten auffiel, als sie in die Halle eintraten, war die Wärme, die sie umfing. Hain versuchte, im fahlen Schein des wenigen Lichts, das durch die geöffnete Tür fiel, einen Lichtschalter zu erkennen, doch es gelang ihm nicht. Also griff er in seine Hosentasche, zog seine Minitaschenlampe heraus und leuchtete die hinter ihm liegende Wand ab. In der linken Ecke erkannte er einen Schalter. Als er ihn betätigt hatte, flackerten über ihren Köpfen träge ein paar Neonröhren auf. Es dauerte einen Augenblick, bis sich die Augen der Polizisten an die Helligkeit gewöhnt hatten, dann jedoch flogen ihre Köpfe herum und sie tauschten ein paar ungläubige, verdutzte Blicke aus.
14
Daijiro Tondo stieg aus dem Lift und ging mit leichten, federnden Schritten auf seine Großcousine zu.
»Wer war das vorhin? Eine Freundin von dir?«
»Nein, Herr Tondo. Ich habe sie zum ersten Mal gesehen.«
»Aber euer Gespräch sah sehr vertraut aus.«
»Wenn das so aussah, dann tut es mir aufrichtig leid. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, mit ihr bekannt zu sein.«
Sein stechender Blick forschte in ihren Augen, während er weitersprach.
»Was wollte sie?«
»Sie hat Arbeit gesucht.«
»Und was wollte sie dann bei dir?«
»Sie hatte sich noch nicht offiziell bei uns beworben und wollte wissen, an wen sie sich wenden muss.«
»Warum hast du sie nicht weggeschickt?«
Yoko Tanaka, die junge Frau hinter der Theke, wusste nur zu genau, dass sie einen schweren Fehler begangen hatte, als sie der morgendlichen Besucherin auch nur den Weg in den zweiten Stock gewiesen hatte, und dass ihr Chef nun so etwas wie ein Tribunal mit ihr veranstalten würde. Dafür, Fehler gnadenlos und ohne Ansehen der Person zu verfolgen und zu ahnden, war er ebenso bekannt wie berüchtigt.
»Du weißt, dass es zu unseren ehernen Geschäftsgrundsätzen gehört, betriebsfremden Personen den Zugang zu unseren Geschäfts- und Lagerräumen nicht zu erlauben. Hast du das vergessen?«
»Nein, Herr Tondo«, erwiderte sie devot. »Aber ich
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