Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
in der sie und ihr Freund Unterschlupf gefunden hatten, bestieg ihr Fahrrad und nahm im leichten Schneetreiben Kurs auf ihre eigene Wohnung. In der Zeit seit ihrer Ankunft hatte sie die wenigen gemeinsamen Freunde angerufen, aber keiner hatte etwas von Shinji gehört oder gesehen.
Der Schneefall wurde im Verlauf ihrer Fahrt mit dem altertümlichen Drahtesel immer dichter, so dass sie die letzten 500 Meter schiebend hinter sich brachte. Nach einer kurzen Warte- und Beobachtungszeit von der anderen Straßenseite aus, die nichts Verdächtiges erkennen ließ, strebte sie auf den Hauseingang zu, schloss die Tür auf und sprang leise und vorsichtig, jedoch mit flinken Bewegungen, die Treppen bis in den zweiten Stock hinauf. Dort sah sie sich erneut um, doch auch hier konnte sie nichts Beunruhigendes wahrnehmen. Mit fliegenden Fingern kramte sie den Schlüssel hervor, öffnete die Wohnungstür und schob sich langsam in den Flur, wo sie erneut lauschte, bevor sie das leichte Holzblatt hinter sich ins Schloss fallen ließ und kräftig durchatmete. Nach einer kurzen Erholungspause tastete die Japanerin sich im Dämmerlicht des Flurs nach vorne, bis sie nach ein paar kurzen, oberflächlichen Blicken in alle Zimmer schließlich die Küche erreicht hatte, nach links abdrehte, sich in einen der hölzernen, klapprigen Stühle fallen ließ und laut zu weinen begann. Ihre Gedanken kreisten um Shinji, seine Erkrankung, die Frage, ob er einen Arzt brauchte, aber zuallererst natürlich darum, wo ihr Freund stecken könnte. Insgeheim hatte sie gehofft, er hätte sich in die gemeinsame Wohnung zurückgeschlichen, doch diese überaus vage Möglichkeit hatte sich nun in Luft aufgelöst. Mit einem beherzten Satz schnellte sie plötzlich nach oben, griff nach der Kaffeedose und riss den Deckel herunter. Leer!
»Verdammt!«, schrie sie laut auf. »Verdammt, verdammt, verdammt!«
»Suchst du das hier?«, höhnte in diesem Augenblick eine dunkle Männerstimme hinter ihr, während gleichzeitig die Energiesparlampe über dem Küchentisch fahl zu leuchten begann … Watane erschrak fast zu Tode, stieß einen kurzen, spitzen Schrei aus, ließ die Kaffeedose fallen und sah in das pockennarbige Gesicht eines ihr völlig unbekannten Landsmannes, der ein Bündel Geldscheine in der linken und ein spitzes, bedrohlich aufblitzendes Messer in der rechten Hand schwenkte.
»Was …?«, wollte die junge Frau fragen, doch aus ihrem Mund kamen nur unverständliche Laute.
»Setz dich hin«, forderte er, »und hör auf, so einen Krach zu veranstalten.«
Seine Stimme hatte etwas zutiefst Bedrohliches, auch, weil er seine Worte völlig souverän und ohne jeglichen Zweifel an seiner Entschlossenheit ausstieß.
Watane Origawa, die noch immer mit weit aufgerissenen Augen dastand, fing an zu zittern, und aus ihrem Mund, der sich unkontrolliert öffnete und schloss, lief ein feiner Speichelstreifen.
»Was wollen Sie von mir?«, flüsterte sie schließlich so leise, dass sie es selbst kaum wahrnehmen konnte.
»Ich will, dass du dich auf der Stelle hinsetzt und aufhörst, Krach zu machen. Los!«
Die junge Frau schluckte und ließ sich auf den Holzstuhl fallen, wobei sie froh war über das Möbelstück unter ihrem Hintern, weil sie befürchtete, innerhalb der nächsten Zehntelsekunde ohnehin ohnmächtig zu werden.
»Wo ist dein Freund?«, blaffte der Mann auf der anderen Seite des Tisches sie an.
»Warum wollen Sie das wissen?«, fragte sie verängstigt zurück. »Was wollen Sie denn von Shinji?«
»Das geht dich nichts an. Also, wo ist er?«
Obwohl sie noch immer von Panik erfüllt war, konnte Watane nun wieder strukturiert denken und während sie noch über eine Antwort auf die Frage des Fremden nachdachte, überlegte sie gleichzeitig, wie er es geschafft haben konnte, in die Wohnung einzudringen.
»Ich weiß es nicht. Ehrlich.«
»Du lügst!«, brüllte er so unvermittelt los, dass die junge Frau erneut zusammenzuckte. »Natürlich weißt du, wo er ist. Also, raus mit der Sprache.«
»Aber ich weiß es wirklich nicht. Ich habe ihn seit heute Morgen nicht mehr gesehen.«
Hat er einen Schlüssel? Nein, das ist nicht möglich. Es gibt nur zwei Schlüssel zu der Wohnung; meinen, den ich benutzt habe, den anderen trägt Shinji an seinem Schlüsselbund.
»Ist er zum Arzt gegangen?«
»Wer?«
»Wer wohl? Dein Shinji.«
»Nein.«
»Weißt du das genau?«
»Ja, ganz genau.«
Wieder liefen dicke Tränen über Watanes Gesicht.
»Was ist so wichtig an ihm,
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