Menschenopfer - Gibert, M: Menschenopfer
der hier als Leiche vor uns liegt, ist voll von Tätowierungen.«
Sie griff nach dem Scheinwerfer und richtete den Strahl auf die freigelegte, sich unappetitlich bewegende Rückenpartie des Leichnams.
»Und das, was davon übrig geblieben ist, sind Schriftzeichen, die ich nicht lesen kann; irgendwas Asiatisches oder so. Vielleicht ist er ja mal zur See …«
Weiter kam die Frau nicht, weil Lenz schlagartig neben ihr aufgetaucht war und ihr unbeabsichtigt den Scheinwerfer aus der Hand geworfen hatte.
»Oh, tut mir leid«, knurrte er aufgeregt. »Aber was sagen Sie da wegen seiner Tätowierungen?«
Angela Weber beugte sich zur Seite, stellte den Scheinwerfer wieder auf, richtete ihn aus und deutete auf den Rücken des Toten.
»Da, sehen Sie. Ein Haufen Bilder und eine Menge asiatische Schriftzeichen. So was nennen wir in unseren Kreisen schon mal menschliche Fototapete.«
Lenz holte tief Luft, schluckte und warf ihr einen Blick zu, der vollkommene Entschlossenheit ausdrückte.
»Ich will sein Gesicht sehen«, teilte er ihr resolut mit.
»Das glaube ich nicht, dass Sie das wollen, Herr Kommissar. Diesen Anblick würden Sie bestimmt ein paar Tage …«
»Hören Sie auf damit«, bellte Lenz die Frau an, »und helfen Sie mir, ihn auf den Rücken zu drehen. Los!«
Die Rechtsmedizinerin war nun zu keinem Widerspruch mehr in der Lage. Mit vereinten Kräften wuchteten sie den Leichnam auf die Seite, was Lenz als ausreichend ansah. Dann nahm er den Scheinwerfer in die Hand und leuchtete dem Toten damit direkt ins Gesicht.
»Verdammte Scheiße«, keuchte er, würgte ein paar Mal, ließ die Schulter des Mannes auf dem Bett los, streckte die Knie durch und lief auf den Ausgang der Wohnung zu.
»Thilo!«, brüllte er in den Hausflur. »Thilo, komm her, ich brauch dich hier!«
21
»Was ist denn los mit euch?«, wollte Helmut Stoffhausen, der Chefredakteur der Lokalpostille, aufgebracht wissen. »Ihr seid doch sonst nicht so zimperlich.«
Betretenes Schweigen in der Runde.
»Ich weiß nicht, wie ich es euch noch klarer machen soll. Unser Herausgeber, der immerhin dafür verantwortlich ist, dass Monat für Monat Geld auf unseren Konten einläuft, will Auflage sehen; und Auflage kriegen wir nur, wenn etwas in der Zeitung steht, mit dem wir die Leute auch zum Kauf animieren können.«
»Hör mal, Helmut«, konterte Lorenz Hilgenberg, ein Urgestein der Zeitung und Ressortleiter der Lokalredaktion, »das, was du hier von uns erwartest, ist nun mal reiner Boulevard. Das ist Bild-Zeitungs-Niveau oder noch darunter. Und ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, als du persönlich dich gegen eben diesen Boulevard ganz massiv gesperrt hast. Aber damals warst du halt auch noch nicht Chefredakteur«, fügte er leise hinzu.
Auf Stoffhausens Stirn wurden mehrere dicke Adern gleichzeitig sichtbar. Der groß gewachsene, grau melierte und als Choleriker verschriene Mann konnte seine Wut nur unter großen Mühen im Zaum halten.
»Also, ich finde«, warf Werner Peters, ein Kollege Hilgenbergs aus der Lokalredaktion, ein, »dass ein bisschen mehr Pepp unserem Auftritt garantiert nicht schaden würde. Und damit natürlich der Auflage und den Werbeerlösen auch nicht.«
Hilgenberg drehte den Kopf und warf seinem Mitarbeiter einen bösen Blick zu, den der jedoch entweder nicht registrierte oder der an ihm abprallte. Nicht umsonst nannte man den Journalisten redaktionsintern auch ›Teflon-Werner‹.
»Du, lieber Werner«, bemerkte der Ressortleiter Politik, Charles Grieneisen, mit einem abfälligen Lächeln, »steckst mit deiner Rübe doch bis zum Anschlag im Hintern mancher hier Anwesenden. Also lass uns mit Beiträgen wie dem eben vorgetragenen zufrieden, bitte.«
»Ich glaube, ihr spinnt jetzt alle völlig«, platzte es nun laut und ungehalten aus Stoffhausen heraus. »Ich berufe diese Konferenz ein und schlage mir dafür meinen Feierabend um die Ohren, damit jeder von euch ein Mitspracherecht bekommt bei den Umstrukturierungen, die anstehen, und ihr benehmt euch wie die letzten Penner. Wenn das so weitergeht, scheiße ich in Zukunft einen dicken Haufen auf eure Meinung.«
»Das machst du doch sowieso«, erwiderte Grieneisen kühl. Stoffhausen warf den Kopf herum und sah hasserfüllt in die Richtung, aus der die Bemerkung gekommen war, konnte sich jedoch nicht zu einer Replik entschließen.
Du Drecksack , dachte der Chefredakteur. Nur, weil du in zwei Monaten in Rente gehst, glaubst du, hier den großen Macker machen zu
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