Menschenskinder
Tageslicht ähnlich aufregend wie die Reeperbahn morgens um halb elf.
Wen wundert es, dass uns der Abschied von Paris dann doch nicht so schwer gefallen ist, wie wir anfangs befürchtet hatten. Das Tüpfelchen auf dem i war der Zug gewesen … er fuhr nicht mal pünktlich ab.
»Ich glaube, das nächste Mal bleiben wir besser wieder in Deutschland«, meinte Katja, sich aufatmend in ihren Sitz zurücklehnend, »wie wär’s denn mal mit Oberammergau?«
Kapitel 10
D ie Kleintierzüchter und der Schützenverein sind ausgebucht, Feuerwehr und Odenwaldclub feiern selber, bei den Hundesportlern sind die Räume zu klein, und die Gaststätte vom Tennisclub will ausgerechnet dann renovieren, wenn wir sie haben wollen«, zählte Nicki auf, während sie sich frustriert ein Schokoladenei nach dem anderen in den Mund schob, »bleibt also bloß noch das Sportheim oben am Wald.« Plötzlich stutzte sie. »Wo hast du denn jetzt noch Ostereier her? In drei Monaten liegen doch schon wieder die ersten Marzipankartoffeln im Supermarkt.«
»Richtig! Und was du gerade isst, sind vermutlich die Überbleibsel vom vergangenen Jahr. Ich hab sie gestern beim Aufräumen im Keller gefunden.«
Erschrocken legte sie das schon halb ausgewickelte Ei wieder zurück. »Bist du sicher, dass sie nur aus der vorletzten Saison stammen? Ich kann mich nämlich noch gut an die Weihnachtskekse erinnern, die …«
»Meine Güte kriege ich die bis an mein Lebensende aufs Butterbrot geschmiert?«
Lang, lang ist’s her, doch diese Geschichte ist in die Annalen der Familie Sanders eingegangen und wird vermutlich noch meinen Ur-Urenkeln erzählt werden, wenn die schon längst ihr Weihnachtsgebäck im Internet bestellen und per Rohrpost direkt in die Küche geliefert bekommen.
Als unsere Kinder noch in jenem Alter waren, da sie einmal täglich den Kühlschrank leer fraßen und sich trotzdem permanent auf Nahrungssuche befanden, herrschte während der Vorweihnachtszeit zwischen ihnen und mir Kriegszustand, und zwar wegen der Kekse. Als pflichtbewusste Mutter stürzte ich mich natürlich auch in die Adventsbäckerei, buk weisungsgemäß von Haferflockenplätzchen bis zu Elisentalern alles, was ich schon im vergangenen Jahr und im Jahr davor gebacken hatte (in mancher Hinsicht ist das Traditionsbewusstsein unserer sonst so modern orientierten Nachkommen sehr ausgeprägt!), doch erst danach begann jedes Mal der schwierigste Teil der ganzen Sache: Wohin mit den Plätzchen?
Ausgekühlt, bepinselt oder bunt bestreut, ruhten die fertigen Produkte des jeweiligen Tages in Blechbüchsen auf dem Küchentisch, während ich auf die Suche nach einem Versteck ging, das ich bisher noch nicht benutzt hatte. Zwei Kellerräume, vollgestellt mit dem üblichen Gerümpel einer Großfamilie und folglich nur durch mühsam freigehaltene Gänge zu durchqueren, sollten eigentlich genug Möglichkeiten bieten – doch dem war nicht so. Befragt, was z.
B. Sascha ausgerechnet jetzt im Keller suche, wo er sich doch ein halbes Jahr lang geweigert habe, auch nur mal zwei Flaschen Sprudel heraufzuholen, kam als Antwort zurück:
»Ich hab dem Hemmi sein Bruder mein altes Skateboard versprochen, das muss doch irgendwo hier unten liegen!« ›Dem Hemmi sein Bruder‹ ist seinerzeit dreieinhalb Jahre alt gewesen und hatte gerade den gefahrlosen Umgang mit seinem Roller gelernt.
Steffi wiederum vermisste plötzlich ihre dunkelblaue Pudelmütze, die sie bereits vor zwei Jahren ausrangiert und der Altkleidersammlung zugeführt, diesen Vorgang jedoch ganz offensichtlich verdrängt hatte. Die Zwillinge, normalerweise ›wegen den vielen Tieren‹ nicht gewillt, weiter als bis zur fünften Treppenstufe zu gehen, suchten mit. (Um dem verständlichen Verdacht vorzubeugen, wir würden in familiärer Eintracht mit Mäusen, Ratten, Würmern und ähnlichen Lebewesen wohnen, sei versichert, dass mit den ›vielen Tieren‹ lediglich Spinnen gemeint waren, die nun real vor keinem Keller Halt machen und gelegentlich sogar in Schlafzimmern auftauchen.)
Ziel dieser plötzlichen Exkursionen in den Keller waren natürlich die Plätzchen, die ich sonst immer unten im Vorratsschrank aufbewahrt hatte. Aber dann war das Jahr gekommen, in dem die Keksdosen immer leichter und ihr Inhalt immer weniger wurden und ich mir ausrechnen konnte, dass das letzte Plätzchen spätestens am vierten Advent verschwunden sein würde. Die Knaben, zur Rechenschaft gezogen, schoben die Schuld auf ihren Vater, der sie erst auf die
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