Menschenskinder
bloß im Kino und dort meistens in Filmen, deren Handlung sich im Flugzeug abspielt. Es macht sich so gut, wenn erst jemand beim Gefunzel einer Taschenlampe die Arzttasche im Gepäckraum suchen muss, während ein Deck höher der Arzt schreit. »Macht schnell, es geht um Minuten!« Oder so ähnlich.
Als ich den Doc zum ersten Mal sah, glaubte ich an einen Irrtum, denn mit seinem runden, pausbäckigen, fast schwarzen Gesicht und den munteren Kulleraugen sah er aus wie ein Student im vierten Semester. Steffi behauptete später, viel weiter sei er wohl auch nicht gekommen, was natürlich eine böswillige Unterstellung war, denn nicht überall müssen angehende Mediziner sechs Jahre lang studieren, ganz zu schweigen von der dann folgenden, mies bezahlten Assistentenzeit; außerdem hing in Docs modernem Praxisraum eine gerahmte Urkunde, die seine Kompetenz bescheinigte. Möglicherweise waren ja nur die Medikamente ein bisschen überaltert gewesen, denn nachdem Steffi drei Tage lang die verordneten Pillen gegen ihre vermutliche Angina geschluckt und keine Besserung verspürt hatte, griff sie doch lieber in ihre eigene Reiseapotheke (es zahlt sich immer aus, wenn zum Freundeskreis eine Pharmazeutin gehört). Zwei Tage später ging sie wieder tauchen.
Richtig ausgelastet war der Doc ohnehin nicht. Mal ein Pflaster hier oder eine Salbe dort, nie etwas richtig Ernsthaftes und erst recht noch niemals eine Notoperation, obwohl für derartige Fälle alles vorhanden war, einschließlich eines als Assistent angelernten Kellners.
Wohl nicht zuletzt wegen Arbeitsmangels war Doc überall zu finden, wo zwei zusätzliche Hände gebraucht wurden. Wenn sonntags das Barbecue stattfand, Tische und Stühle rund um den Pool platziert werden mussten und die Grills in unmittelbar Nähe des Wassers installiert wurden, half auch Doc beim Aufbau. Er schleppte Teller aus der Küche, hängte die Christbaumbeleuchtung in die Bäume, präparierte die Windlichter, und tagelang kümmerte er sich sogar um die winzigen Wasserschildkröten, die in einem großen Bottich voll Meerwasser auf Überlebensgröße hochgepäppelt wurden. Doc war überall zu finden, auch abends an der Bar, und wenn sein Können offenbar noch nie auf eine richtige Bewährungsprobe gestellt worden war, so hatte seine ständige Anwesenheit zumindest einen psychologischen Effekt: Man war beruhigt, denn ein Arzt war jederzeit greifbar. Und für ganz ernste Fälle gab’s ja noch das Funkgerät und den Hubschrauber-Landeplatz am anderen Ende der Insel, wobei die Funkerei vermutlich der unzuverlässigere Part eines möglichen Krankentransports sein würde.
Doch davon später.
Wir waren so gegen vier Uhr auf der Insel angekommen, hatten die Zimmer bezogen, auf die ersehnte Dusche jedoch erst mal verzichtet. Was nützt Wasser, wenn man nicht mal Seife oder Shampoo hat, von Garderobe zum Wechseln gar nicht zu reden. »Ich steige doch nicht wieder in die verschwitzten Klamotten!«, hatte Steffi protestiert. »Lieber müffele ich noch eine Weile vor mich hin.«
»Aber nicht unter Menschen!«, empfahl ich. »Wir setzen uns am besten vorne an den Strand, da sehen wir gleich, wenn der Kahn mit den Koffern kommt.«
Hannes wollte nicht mit. Das Tauchboot war inzwischen hereingekommen, hatte seine neopren-umhüllte, schnorchelbehangene Fracht entladen, und nun wollte er »nähere Erkundigungen« einziehen. Die bestehen immer zuerst in der Frage, wann das Boot morgens ablegt, denn danach richtet sich der Tagesablauf. Neun Uhr zum Beispiel ist eigentlich viel zu früh, da muss man ja aufstehen, wenn man noch gar nicht ausgeschlafen hat, und falls man trotz Wecker verpennt, reicht die Zeit nicht mehr zum Frühstücken, aber ohne Frühstück … warum geht’s denn nicht eine halbe Stunde später?
Natürlich geht’s nicht, wegen der Flut oder dem Wind oder aus welchem Grund auch immer, also kann Hannes nicht ausschlafen, muss dann aber nach dem Mittagessen ein Stündchen ruhen, damit er um drei Uhr für den zweiten Tauchgang wieder halbwegs fit ist. Die Wunde am Bein, mit dem er gestern über die Koralle geschrammt ist, brennt auch noch höllisch. Wie war das doch gleich mit der ganzen Fitnessbewegung? Richtig! Treibt Sport oder ihr bleibt gesund!
Hannes begab sich also zum Tauchcenter, während Steffi und ich zum fast leeren Strand schlenderten in der Hoffnung, vielleicht schon jenes Boot zu sichten, das uns endlich die Koffer bringen würde. Wir sahen es nicht, aber wir wurden gesehen. Von
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