Menschensoehne
genannt.«
»Das war nichts Neues, und das weißt du selber auch«, konterte der Arzt. Er hatte sich bislang mehr oder weniger an einen sachlich-wissenschaftlichen Ton gehalten, aber jetzt hob er die Stimme etwas. »Daníel ist hier im Spital ebenso wie die anderen Patienten nie schlecht behandelt worden. Es ist ganz normal, dass uns unterstellt wird, wir würden unsere Patienten schlecht behandeln. Wir bieten eine ideale Angriffsfläche, aber ich bin davon überzeugt, dass die Belegschaft hier durchweg hervorragend ist.«
»In den letzten Wochen hat er Besuch bekommen, wahrscheinlich von seinem früheren Volksschullehrer. Er hieß Halldór. Sonst hat er von niemandem außer mir Besuch bekommen. Die beiden haben ausführlich miteinander geredet, und seitdem hat er, wie mir gesagt wurde, angefangen, sich seltsam zu benehmen.«
»Darüber weiß ich nichts.«
»Hat er dir gegenüber diesen Halldór erwähnt?«
»Nein. Er kam alle zwei Wochen zu einem kurzen Behandlungstermin zu mir, aber ich habe keine Veränderung an Daníel feststellen können; vielleicht hat das Personal, das tagtäglich Umgang mit ihm hatte, etwas bemerkt. Über Besucher hat er nie mit mir gesprochen, und ich wusste nichts von diesem Halldór.«
»Hat Daníel Trilofon bekommen?«
»In den letzten Jahren ständig. Es handelt sich um kein besonders starkes Mittel, aber richtig dosiert hilft es. Außerdem bekam er Artan, um die Nebenwirkungen zu reduzieren. Du solltest vielleicht auch wissen und kannst es auch diesem Bericht entnehmen, dass Daníel wahrscheinlich nicht mehr sehr lange zu leben hatte.«
»Was meinst du damit?«
»Gibt es in deiner Familie Herzkrankheiten?«
»Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht.«
»Daníels Herz hätte es nicht mehr lange gemacht. Es war das Herz eines alten Menschen, eigentlich völlig marode. Meines Erachtens wäre er vermutlich innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre gestorben.«
»Gibt es eine Erklärung dafür?«
»Er hatte kein starkes Herz, und die Mittel, die er bekommen hat, trugen nicht dazu bei, es zu stärken. Trilofon hilft, aber es hat Nebenwirkungen in Bezug auf die Herzmuskeltätigkeit.«
»Er hat manchmal Krämpfe davon bekommen.«
»Daníel hat gelegentlich die zugeteilte Dosis nicht geschluckt, sondern aufbewahrt und dann alles auf einmal genommen. Eigentlich wissen wir nicht, wie er das geschafft hat. Wenn er dann eine dreifache oder vierfache Dosis einnahm, kam es zu Vergiftungserscheinungen. Er bekam Krämpfe, verlor das Bewusstsein, und sein Blutdruck stürzte in den Keller. Daníel sehnte manchmal diese Art von tiefer Bewusstlosigkeit herbei.«
»Daran kann ich mich gut erinnern. Das waren die einzigen Male, wo er wirklich friedlich war. Er hat hin und wieder über dieses Gefühl der Betäubung gesprochen.«
»Trilofon ist natürlich das reinste Gift, das will ich gerne zugeben. Zahnschäden sind die Folge, die Nervensignale werden abgeschwächt und anderes mehr. Aber es hält die Krankheit in Schach. Daníel ist lange hier in der Klinik gewesen, aber erst seit zwei Jahren bei mir in Behandlung, deswegen kenne ich seine Krankengeschichte nicht so gut. Aber ich kann dir, glaube ich, guten Gewissens versichern, dass er sich in den letzten beiden Jahren nicht schlecht gefühlt hat.«
In Daníels Zimmer herrschte immer noch dasselbe Chaos wie vor zwei Tagen, als Pálmi zu seinem wöchentlichen Besuch gekommen war. Bettwäsche, Zeitungen, Zeitschriften und Kleidung lagen über den Boden verstreut, und der Kleiderschrank war völlig demoliert. Nur eines war nicht angerührt worden: der Stapel sorgfältig gebügelter und exakt zusammengefalteter weißer Hemden auf einem Schränkchen in der Ecke. Das Waschbecken war kaputt und der Spiegel darüber zerbrochen. Tisch und Stuhl waren umgeworfen worden. Daníel hatte nicht viele persönliche Besitztümer gehabt. Einige Bücher aus der Bibliothek der Klinik lagen im Zimmer verteilt.
Pálmi fing an aufzuräumen, um einen besseren Überblick zu bekommen, und die Habseligkeiten seines Bruders zusammenzusuchen. Die Bücher waren ganz unterschiedlicher Art, einige Romane von Thomas Mann und der dritte Band der Dokumentation von Lúðvík Kristjánsson über die Fischerei in Island. Eine billige Ausgabe mit den Gedichten von Jónas Hallgrímsson mit einem Vorwort von Tómas Guðmundsson, außerdem Gedichte von Örn Arnarson. Pálmi entdeckte einige Bücher, die er ihm geliehen hatte, und legte sie beiseite.
In der kleinen Schreibtischschublade
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