Menschensoehne
lag Daníels Brieftasche. Pálmi hatte gar nicht gewusst, dass er so etwas überhaupt besaß oder dass er jemals Geld zur Verfügung gehabt hatte. Von seiner Behindertenunterstützung, die auf ein Konto überwiesen wurde, ging das meiste für Süßigkeiten und Zigaretten drauf. Er hatte sich immer geweigert, mit Beschäftigungstherapeuten zu arbeiten; die Patienten konnten sich mit Handarbeit ein paar Kronen dazuverdienen. In der Brieftasche befand sich ein Schwarzweißfoto von ihrer Mutter, das Pálmi nie zuvor gesehen hatte. Es war Sommer, und ihre Mutter stand in einem weißen Kleid in irgendeinem Garten, lächelte in die Kamera und hielt die Hand über die Augen, weil die Sonne blendete. Daníel stand an ihrer Seite, vielleicht gerade mal zwei Jahre alt, ein pummeliger und fröhlicher kleiner Bursche. Pálmi starrte lange auf das Bild. Es gab nur wenige Fotos von ihrer Mutter, als sie jung war, und von den beiden Brüdern erst, als sie im Schulalter waren.
Daníel war ein hübscher Junge mit rundlichem Gesicht und hellen Locken gewesen, die bis auf die Schultern herabfielen. Auf dem Foto trug er einen Matrosenanzug, der sich immer noch in Pálmis Kleiderschrank befand. Ihre Mutter hatte diesen Matrosenanzug geliebt, erinnerte sich Pálmi. Sie hatte ihn oft aus dem Schrank genommen und gestreichelt, nachdem Daníel in die Klinik gebracht worden war. Der Vater hatte ihn einmal von einer Auslandsreise mitgebracht. Auch Pálmi war als kleiner Junge noch damit herausgeputzt worden.
Er fand außerdem diverse andere Kleinigkeiten, darunter alte Sammelbilder von Hollywood-Schauspielern, die vor vielen Jahren den Kaugummipäckchen beigefügt waren. Daníel hatte sie ziemlich lange gesammelt. Es gab drei Stapel davon in einem Schuhkarton, die mit einem dicken Gummiband zusammengehalten wurden. Pálmi erkannte zuoberst in einem Stapel Marlon Brando als Zapata mit einem enormen Schnauzbart und einem breitkrempigen Sombrero auf dem Kopf. Marlon Brando sah wie immer melancholisch aus, so, wie man ihn kannte. Der Bildhintergrund war feuerrot.
Dann fand er ein Klassenfoto, das er nie zuvor gesehen hatte. Es war unter dem Bett auf dem Fußboden gelandet, als das Zimmer auf den Kopf gestellt worden war. Es hatte keinen Rahmen und schien auch nie einen gehabt zu haben. Das Bild war vergilbt, und die Ecken waren abgegriffen. Obwohl es der Länge nach geknickt worden war, war alles gut zu erkennen. Die Klasse war in drei Reihen aufgestellt worden, und der Fotograf hatte die Kinder sich der Größe nach aufstellen lassen. Die größten Jungen standen in der obersten Reihe, die Mädchen saßen auf dem Boden. Ganz rechts in derselben Reihe saß außerdem Daníel. Er war der Einzige, der nicht in die Kamera blickte, als das Bild aufgenommen worden war. Er schaute zu seinem Lehrer auf, der kerzengerade rechts neben der Klasse stand.
Pálmi nahm diese armseligen Besitztümer an sich und verließ das Zimmer, ging den langen grünen Korridor entlang und blieb bei den Patienten, die an der Tür rauchten, stehen. Er zog die beiden Zigarettenschachteln aus der Tasche, die er für diesen Anlass gekauft hatte, und schenkte sie ihnen. Dann öffnete er die Tür und trat in den nasskalten Januarmorgen hinaus. Falls er gehofft hatte, Erleichterung zu verspüren, ließ sie zumindest noch auf sich warten.
Zwölf
Die morgendlichen Besprechungen bei der Kriminalpolizei, eine Idee des neuen Chefs, waren bei den Mitarbeitern auf stumme Ablehnung gestoßen, weil sie als völlig unnütz angesehen wurden. An ihnen mussten sämtliche Mitarbeiter aus allen Abteilungen sowie deren Vorgesetzte teilnehmen. Auf der Tagesordnung standen die jeweils aktuellen Fälle und deren neueste Entwicklungen. Diese Form der Teamarbeit sollte die Ermittlungen schneller voranbringen. Der neue Chef der Kriminalpolizei, der den Großteil seiner Dienstzeit im Kulturministerium absolviert hatte, hatte aber noch nicht begriffen, dass es sich bei den meisten Fällen, die die Kriminalpolizei bearbeitete, um Kleinkriminalität wie beispielsweise Überfälle auf Kioske und Einbrüche in Bürogebäude handelte. Am häufigsten waren Computerdiebstähle, die regelrecht in Mode waren, außerdem Unterschlagungen von Firmenmitarbeitern. Todlangweilige Fälle. Isländische Straftäter hatten überhaupt keine Ambitionen.
Der Mord an Halldór Svavarsson stellte im doppelten Sinne eine Ausnahme von der Regel dar. Hier war tatsächlich jemand ermordet worden, und zwar aller Wahrscheinlichkeit
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