Menschensoehne
ein Rachemord. Ich glaube, die Tatsache, dass das Opfer verbrannt wurde, spielt eine wichtige Rolle.«
»Der Mörder hat alles angezündet, um seine Spuren zu verwischen«, wurde ihr geantwortet.
»Ach nee, und dann hinterlässt er den Kanister?«, entgegnete sie. »Und besorgt sich ein Seil, das diesen Höllenbrand überdauert?«
»Der Kanister bringt uns nicht weiter«, sagte Erlendur und schaute in den Bericht. »Er war ziemlich neu und fasste zehn Liter. Diese Sorte ist ziemlich gebräuchlich und wird für alles Mögliche verwendet. In so einem Ding kauft man beispielsweise auch den Malzmix für Weihnachten. Einen Mord aus Rache kann man allerdings in der Tat nicht ausschließen.«
Man war noch eine ganze Weile damit beschäftigt, die verschiedenen Möglichkeiten zu diskutieren. Als die Besprechung kurz vor Mittag ihrem Ende zuging, war es endlich ganz hell geworden. Falls man das hell nennen konnte. Die Düsternis der kurzen Wintertage lag wie eine graue Zeltplane über der Stadt. Große Schneeflocken schwebten träge vor den Fenstern zur Erde. Erlendur verlor bei solchen Besprechungen ziemlich schnell die Geduld und begann bei der erstbesten Gelegenheit, die Aufgaben an seine Mitarbeiter zu verteilen. Er selbst und Sigurður Óli würden zu Halldórs Schule fahren und mit dem Schulleiter und den Kollegen des Ermordeten reden. Eine Gruppe von Polizisten würde mit den Hausbesuchen im Þingholt-Viertel weitermachen und herausfinden, ob zur Tatzeit verdächtige Personen gesichtet worden waren. Eine andere Gruppe sollte die Tankstellen abklappern und nach Personen mit Zehn-Liter-Kanistern fragen. Außerdem würden einige Leute damit beschäftigt sein, ausfindig zu machen, wo das Seil gekauft worden war, das man an dem Skelett gefunden hatte. Auch die Brandruine würde weiter nach Indizien durchkämmt werden. Ein großes Zelt war darüber aufgeschlagen worden, in dem ein Heizlüfter Tag und Nacht für die richtige Temperatur sorgte. Es wurde beschlossen, dass nur Erlendur für die Informationen an die Presse zuständig war, über den Stand der Ermittlungen durfte nichts durchsickern. Erlendur gab zu verstehen, er werde, falls sich irgendwo eine undichte Stelle herausstellte, den Verantwortlichen persönlich zur Rechenschaft ziehen und dafür sorgen, dass dieser seine Dummheit für den Rest seines Lebens bereuen würde. Die Sache war deswegen so heikel, weil die Einzigen, die im Augenblick unter Verdacht stünden, Schulkinder seien.
»Was glaubt ihr, wie sich so was in den Zeitungen ausnimmt?«, erklärte Erlendur mit einem scharfen Unterton in der Stimme.
* In Island geht heutzutage die Grundschule bis zur zehnten Klasse; erst danach entscheidet man sich für eine weiterbildende Schule. Früher gab es die Zweiteilung in Volks-und Mittelschule.
Dreizehn
Ein Telefon klingelte irgendwo, aber das Geräusch klang gedämpft. Es gab nicht weniger als acht Telefone in diesem Haus, aber der Apparat, der sich jetzt meldete, hatte keine öffentliche Nummer. Das Handy befand sich in der Tasche eines Hausmantels, der an einem Haken in einem der zahlreichen Badezimmer hing. Der Besitzer war unter der Dusche und hörte es erst, nachdem es bereits eine Weile geklingelt hatte. Der Mann war um die siebzig, sonnengebräunt und körperlich außerordentlich fit, wie seine gut ausgebildeten Muskeln erkennen ließen. Er drehte das Wasser ab und tastete nach dem Hausmantel. Das Telefon klingelte unentwegt. Als der Mann es endlich zu fassen bekam, meldete er sich mit einem knappen »Ja«.
Das Haus lag auf Kjalarnes, weit vor den Toren der Stadt. Dort wurden die Villen derer gebaut, die vom Trubel der Hauptstadt und der steigenden Luftverschmutzung verschont bleiben wollten. Eines dieser Häuser, das zu den allerersten gehört hatte, die hier errichtet worden waren, lag abseits und war erheblich größer als die anderen. Es befand sich auf einer kleinen Halbinsel am Meer, war einstöckig und bestand aus zwei großen Gebäudeteilen aus dickem Beton mit nur wenigen Fenstern. Es war umgeben von einer hohen Mauer mit einem Tor, das von innen elektronisch geöffnet werden konnte. Vor den vier Garagen nicht weit vom Ufer standen zwei BMWs und ein Pajero-Jeep. Die Nachbarn hatten den Besitzer noch nie zu Gesicht bekommen und hielten ihn für einen Sonderling, der im Verborgenen leben wollte. Er kümmerte sich nicht um sie und sie sich nicht um ihn. Hin und wieder kamen Autos, die die Zufahrt zum Haus hinaufrasten. Die Nachbarn wussten,
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