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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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Auch für Pálmi war dort noch Platz vorgesehen. Er und Jóhann, zusammen mit vier Männern vom Beerdigungsinstitut, trugen den Sarg. Der Unbekannte folgte ihnen bis zum Grab und warf genau wie die anderen eine Hand voll Erde auf den Sarg. Sie sprachen nicht mit ihm. Auf dem Weg zurück zur Kapelle beeilte sich der Mann sichtlich, aber Pálmi holte ihn im Laufschritt ein und stellte sich als Daníels Bruder vor. Es schneite so dicht, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte, aber das Wetter war mild.
    »Ja, ich weiß«, sagte der Mann leise und blickte zur Seite. Sie waren auf dem Parkplatz vor der Kapelle angekommen. Der Mann war groß und schlaksig, hatte einen langen Bart, und seine Haare reichten ihm bis auf den Rücken. Er war ärmlich gekleidet, trug nur eine dünne Windjacke, Jeans und Turnschuhe. Diese Kleidung passte überhaupt nicht zur Jahreszeit und zum Wetter, ihm war sichtlich kalt. Der Mann trug einen Gürtel, und Pálmi fiel die große Schnalle auf, die den Kopf eines alten Indianerhäuptlings zeigte.
    »Daníel hatte nicht viele Freunde, und ich bin ehrlich gesagt ein bisschen neugierig«, erklärte Pálmi. »Es kommt mir so vor, als hätte ich dich schon mal gesehen.«
    »Ich kann mich gut an dich erinnern, als du klein warst«, erwiderte der Mann und vermied es, Pálmi in die Augen zu schauen.
    »Als ich klein war? Dann hast du Daníel gekannt, als er jünger war?«
    »Du heißt Pálmi, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Ich kann mich an dich in einer Sportkarre erinnern. Du warst in dieser Karre überall dabei. Das mit Danni habe ich aus der Zeitung erfahren. Allerdings habe ich schon immer damit gerechnet. Ich wusste die ganze Zeit, dass es so enden würde. Danni war der Beste in unserer Gruppe.« »Bist du mit ihm zur Schule gegangen?«
    »Ja, wir waren in derselben Klasse.«
    »Halt, warte, wie heißt du denn?« Der Mann wollte sich im Schneetreiben davonmachen, aber Pálmi packte ihn beim Handgelenk. »Was meinst du damit, dass du das schon lange erwartet hast? Wovon redest du eigentlich?«
    »Hat er dir das nicht erzählt?«, fragte der Mann, riss sich los und wich mit schnellen Schritten zurück.
    »Hat er mir was nicht erzählt?«, rief Pálmi und setzte zur Verfolgung an. Dagný und Jóhann waren jetzt auch hinzugekommen, und der Mann verschwand wieder im Schneetreiben.
    »Was hätte er mir erzählen sollen? Wer bist du?« Pálmi hatte den Mann wieder erreicht.
    Der Mann rief etwas, und dann begann er zu rennen und war nach kurzer Zeit ihren Blicken entschwunden. Als Pálmi hörte, was der Mann rief, war er wie angewurzelt stehen geblieben.
    »Wer war das?«, rief Dagný, die angelaufen kam. »Was hat er gesagt? Was ist los mit dir, Pálmi, du bist ja leichenblass?« »Die Lebertranpillen«, sagte Pálmi.
    »Was?«, sagte Jóhann, der jetzt auch hinzugekommen war. Er blickte von Dagný zu Pálmi. Die drei schwarz gekleideten Gestalten standen dicht beieinander, während große Flocken um sie herum zu Boden fielen und an ihnen haften blieben. Soweit das Auge reichte, breitete sich die Stadt mit ihrer nebligen Lichterfülle aus wie eine Koralle in den Tiefen des Meeres.
    »Er sagte, in den Lebertrankapseln wäre kein Lebertran gewesen.«

Fünfzehn
    Im Seniorenheim in Hafnarfjörður saß Helena und erinnerte sich an vergangene Zeiten. Das war nicht ihre Absicht gewesen, aber der Mann, der ihr gegenüber auf dem Stuhl saß, hatte sie mit stichhaltigen Argumenten dazu gebracht. Erst hatte sie ihm gesagt, er solle sie in Ruhe lassen, und ihm die Tür vor der Nase zugeknallt, doch er hatte nicht nachgegeben, und schließlich hatte sie ihn hereingelassen. Er stellte sich vor und sprach von seinem Bruder, der sich umgebracht hatte, nachdem er praktisch sein ganzes Leben lang in einer psychiatrischen Klinik gewesen war. Ihr Bruder Halldór sei sein Lehrer gewesen und habe ihn während der vergangenen Wochen in der Klinik besucht. Pálmi erklärte, die Todesanzeige gesehen zu haben, die sie in die Zeitung gesetzt hatte, und er habe sie ausfindig gemacht, um ihr verschiedene Fragen zu stellen. Er war ein ausgesucht höflicher junger Mann, der sich sehr für die Kjarval-Zeichnung interessierte und Helena über ihr schönes und sauberes Heim Komplimente machte. Augenscheinlich ein Mann, der genau wusste, wie man sich gegenüber fremden älteren Damen benahm, die allein in Seniorenheimen lebten. Es war der gleiche Tag, an dem Daníel beerdigt worden war.
    »Die Sache ist die«, hatte Pálmi ihr gesagt,

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