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Menschensoehne

Menschensoehne

Titel: Menschensoehne Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arnaldur Indridason
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»dass Daníel und ich nie eine enge Verbindung hatten, und ich habe das Gefühl, als sei das meine Schuld. Ich bin ihm immer ausgewichen und habe mir nie die Mühe gemacht, ihn wahrzunehmen oder ihn kennen zu lernen. Obwohl er niemand anderen hatte. Nach dem Tod unserer Mutter habe ich mich womöglich noch weiter von ihm entfernt. Man sollte meinen, dass einen das enger zusammenschweißen würde, aber das hat es nicht getan, und das war meine Schuld. Daníel war krank, er brauchte mich, aber ich habe mich ihm entzogen. Ich habe ihn zwar einmal in der Woche besucht, aber immer nur halbherzig, und ich fühlte mich immer am besten, wenn ich wieder aus der Klinik herauskam. Der Grund dafür war wahrscheinlich etwas, das in unserer Jugend passiert ist. Ich glaube, dass er für mich so etwas wie ein Monster war. Aber mir wird immer deutlicher bewusst, dass ich ihm schon vor langer Zeit hätte vergeben sollen. Jetzt möchte ich versuchen, zu verstehen, was für ein Mensch Daníel war. Wie er war, bevor er erkrankte. Warum er krank wurde. Was für ein Leben er gehabt hat. Ich möchte Daníel verstehen.«
    So viel hatte Pálmi über sich selbst gesagt, und Helena hatte gespürt, dass er die Wahrheit sagte und dass er litt, obwohl sie es nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie wollte ihm gern helfen, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie. Sie wusste nicht, was für Auskünfte er von ihr erwartete, aber sie war entschlossen, ihm alles zu sagen, was er wissen wollte. Ihm würde sie im Gegensatz zu den beiden Männern von der Kripo nichts vorenthalten. Sie sagte ihm, dass die Polizei zu ihr gekommen sei, um ihr mitzuteilen, dass Halldór ermordet wurde.
    »Ermordet? Halldór?«, fragte Pálmi völlig entgeistert.
    »Er wurde mitsamt seinem Haus in Brand gesteckt. Kannst du dir so etwas vorstellen?«
    »Davon war keine Rede in den Nachrichten.«
    »Sie behandeln den Fall als Mord. Was er natürlich auch ist. Sie kamen zu zweit zu mir und haben mir überhaupt nicht zugehört, als ich von meinen Sorgen erzählt habe. Der eine war eigentlich ganz nett, der andere aber ziemlich nervös und gestresst. Ich glaube, der Nette hieß Erlendur. Sie waren von der Kriminalpolizei.«
    »Wissen sie, warum er ermordet worden ist, und wer das getan hat?«
    »Sie hatten nicht den blassesten Schimmer, als sie mit mir sprachen. Ich habe ihnen von diesen schrecklichen Kindern an der Schule erzählt. Die sind womöglich jetzt einfach aufs Ganze gegangen. Halldór hat sich zum Schluss in der Schule nicht mehr wohl gefühlt. Die Schüler haben ihn gehasst und ihm das Leben zur Hölle gemacht.«
    »Weißt du, warum?«
    »Halldór sagte mir, dass alte Lehrer oft in einer schwierigen Situation sind, und er bedauerte es, nicht früher aufgehört zu haben. Aber das konnte er einfach nicht. Es war, als hätte er bis zum bitteren Ende Lehrer sein wollen. Halldór war, abgesehen von allem anderen, bestimmt ein guter Lehrer.«
    »Weswegen wollte er immer noch weiter unterrichten?« »Ich glaube, dass Halldór unter großen Schuldgefühlen litt, die mit dem Alter immer stärker wurden. Er glaubte irgendwie, dass er für etwas, das er vor vielen Jahren seinen Schülern angetan hat, büßen könnte, indem er weiterhin unterrichtete und die Kinder nach Kräften förderte. Ich wollte den Polizisten nichts von alledem erzählen, aber wahrscheinlich habe ich ihnen schon zu viel gesagt, als ich erwähnte, dass Halldór als Kind missbraucht worden ist. Sie haben noch mehrmals nachgefragt, aber aus mir haben sie kein Wort mehr herausgekriegt.«
    Pálmi, der Helena gegenübersaß, schwieg.
    »Ich habe kaum darauf reagiert, als sie mir erzählten, dass Halldór ermordet worden sei. Mir ist von Kindesbeinen an beigebracht worden, nicht über Dinge zu schwatzen und zu lamentieren. Halldór war kein schlechter Mensch. Er hätte mir bestimmt mehr darüber gesagt, was er in seiner Jugend durchgemacht hat, wenn er nicht andersrum gewesen wäre. Seit er ein kleiner Junge war, hat er das die ganze Zeit mit sich herumgetragen und nie einer Menschenseele davon erzählt. Er hat mir nur gesagt, dass er unendlich darunter gelitten hätte. Kurz nachdem er in der Víðigerði-Schule angefangen hatte, kam irgendetwas hoch. Er war gerade wieder von Hvolsvöllur nach Reykjavík gezogen, wo er die ersten Jahre nach dem Studium unterrichtet hatte. Ich glaube, dass da irgendetwas vorgefallen ist.«
    »Ich kann mich dunkel an Halldór erinnern«, sagte Pálmi. »Daníel und ich sind beide in diese

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