Menschensoehne
diesen Brüdern geworden?«, fragte Pálmi.
»Sie sind schon lange tot.«
»Und Friðgerður?«
»Zum Schluss hat sie es glücklicherweise auch nicht mehr bei denen ausgehalten. Wahrscheinlich hat sie es zum Schluss selbst satt gehabt. Vielleicht ist da auch noch so was wie eine Spur von Ehrgefühl in ihr hochgekommen. Sie ist danach in Reykjavík gelandet, ungefähr zu der Zeit, als die englischen Truppen im Zweiten Weltkrieg Island besetzten. Sie hat sich mit den Soldaten eingelassen und ist sogar zu Geld gekommen. Sie und Halldór lebten in einer Kellerwohnung, sie konnte ganz gut von diesen Einkünften leben, und sie verdiente sogar noch besser, als die Amis kamen. Aber es hat ein schlimmes Ende mit ihr genommen. In dem Winter, als der Krieg zu Ende ging, wurde sie vor einer Militärbaracke in Camp Knox erfroren aufgefunden. Niemand wusste, was passiert war. Sie war leicht bekleidet und wurde zuletzt auf einer Tanzveranstaltung für die Soldaten gesehen, aber niemand wusste, wie sie in die Barackensiedlung gekommen war, oder besser, wem sie dorthin gefolgt war. Die Soldaten wurden bald darauf abgezogen, und der Sache wurde nie auf den Grund gegangen. Ich glaube, alle fanden damals, dass es sich gar nicht lohnte, wegen eines Flittchens, das vor einer Ami-Baracke erfroren war, viel Aufhebens zu machen.«
»Damals ist Halldór sechzehn oder siebzehn gewesen, nicht wahr?«, fragte Pálmi.
»Ja. Er stand damals schon auf eigenen Beinen. Er arbeitete als Laufbursche für ein Feinkostgeschäft, bediente dort aber auch im Laden. Er wollte seinen Vater und seine Geschwister ausfindig machen. Der alte Svavar hat ihm keinerlei Beachtung geschenkt. Halldór hat ihn ein einziges Mal zu Hause aufgesucht, Papa war damals schon weit über siebzig. Aber ich glaube, das war ein ziemlich schmählicher Empfang. Außer mir hat sich niemand von uns Halbgeschwistern um Halldór gekümmert, aber ich wollte ihm helfen. Er war ein höflicher und zurückhaltender junger Bursche, aber sehr angespannt. Irgendwie kam er mir wie das reinste Nervenbündel vor. Er wollte unbedingt etwas studieren und ging an die Pädagogische Hochschule, an der er ein gutes Examen gemacht hat. In Reykjavík bekam er keine Stelle, deswegen ging er aufs Land und begann zuerst als Lehrer in Hella und dann in Hvolsvöllur. Als dann in den Jahren nach dem Krieg Reykjavík immer größer wurde, weil die Leute vom Land in die Stadt strömten, mussten ständig neue Schulen eingerichtet werden, und entsprechend wuchs der Bedarf an Lehrern. Halldór hat dann bei der Víðigerði-Schule angefangen. Sein Gehalt war nicht schlecht, und er hatte Freude an der Arbeit. Heutzutage sind die Gehälter wohl erbärmlich, und alle beklagen sich über den schlechten Unterricht. Wie stellen sich die Leute das eigentlich vor?«
»Er hat nie geheiratet?«
»Halldór war ein kaputter Mensch, obwohl man es ihm nicht angemerkt hat.«
»Hat er mit dir darüber gesprochen, was er sich in Hvolsvöllur zuschulden kommen ließ?«
»Nein, das wollte er nicht. Aber es war so ernst, dass irgendjemand ihn später deswegen unter Druck setzen konnte. Man hat ihn richtiggehend erpresst. Er hat irgendwann mal gesagt, dass er ausgenutzt wurde.«
»Weißt du, was er damit genau gemeint hat?«
»Nein, ich habe keine Ahnung.«
»Als ich in der Volksschule war, bekamen alle Kinder jeden Tag Lebertrankapseln verabreicht. Davor wurde der Lebertran den Schulkindern in flüssiger Form eingetrichtert, löffelweise oder direkt aus der Flasche, aber viele ekelten sich vor dem Geschmack, und man konnte die Kinder kaum dazu bewegen, ihn zu schlucken. Einige haben auch alles wieder ausgekotzt. Außerdem war es unhygienisch, denn bei allen wurde derselbe Löffel verwendet. Deswegen ging man dazu über, Lebertran in kleinen Kapseln zu verteilen. Die waren sogar leicht gezuckert und schmeckten gar nicht schlecht, man bekam eine pro Tag. Auf dem Lehrerpult stand immer ein ganzes Glas voll davon. Das sollte der Gesundheitsvorsorge dienen. Inzwischen ist das aber längst abgeschafft worden. In der großen Pause bekamen wir eine Kapsel vom Lehrer ausgehändigt, und er passte auf, dass wir sie auch schluckten. Wir waren ziemlich versessen auf diese Lebertranpillen, und manchmal haben wir uns sogar heimlich über das Glas auf dem Lehrerpult hergemacht. Hat Halldór jemals mit dir über diese Lebertranpillen gesprochen?«
»Niemals«, antwortete Helena. »Nicht ein einziges Mal.«
Sechzehn
Am darauf folgenden
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