Menschensoehne
Reykjavík mit unglaublicher Geschwindigkeit Richtung Osten aus. Es waren die Jahre des Aufschwungs nach dem Krieg, und die Leute aus der Provinz strömten wie nie zuvor nach Reykjavík und in die Wohnblocks, die in allen Neubaugebieten wie Pilze aus dem Boden schossen. Menschen aus allen sozialen Schichten zogen dorthin: Arbeiter und Handwerker in die Wohnsilos, die sich kantig auf zwei Hügeln erhoben; Ärzte und Geschäftsleute sicherten sich die kleineren und größeren Reihenhäuser, die unterhalb dieser Hügel entstanden. Die Wohlhabenden bezogen ihre großen Villen in Fáfnisgerði, während die Ärmsten sich mit den Sozialwohnungen am Grenivegur zufrieden geben mussten.
Die Kinder in diesem Stadtteil gingen alle in dieselbe Schule in Víðigerði, die Anfang der sechziger Jahre mitten in dem Neubauviertel hochgezogen worden war. Der älteste Teil der Schule bestand nur aus einem Trakt mit zwei Stockwerken. Es waren zwei lange Korridore, auf der rechten Seite lagen die Klassenräume, und im Erdgeschoss befanden sich am einen Ende das Lehrerzimmer und am anderen die Schülertoiletten. Es dauerte nicht lange, bis das Viertel zu groß für die Schule wurde, sodass eine Erweiterung in Angriff genommen werden musste. Zwei weitere, ganz ähnliche Trakte wurden gebaut, und alle drei Gebäudeteile wurden durch überdachte Gänge verbunden. Später kam dann noch ein vierter Trakt mitsamt Turnhalle und Schwimmbad hinzu. Diese Schule wurde zum Vorbild für alle Schulgebäude, die in jenen Jahren in ganz Island errichtet wurden, und allenthalben konnte man den Grundriss der Víðigerði-Schule wiedererkennen, mal mit nur einem Trakt, aber manchmal auch mit zweien oder dreien.
Erlendur und Sigurður Óli betraten die Schule, die erst kürzlich für Millionen von Kronen renoviert worden war, abgesehen vom ältesten Trakt, für den die Gelder nicht mehr ausgereicht hatten. Das Ministerium ließ verlautbaren, dass die Mittel dafür frühestens in zwei Jahren bereitgestellt würden. Im ältesten Trakt war jetzt fast ausschließlich die Verwaltung untergebracht, dort waren nur noch drei Unterrichtsräume in Gebrauch. Das ursprüngliche Lehrerzimmer, in dem früher das gesamte Kollegium Platz gefunden hatte, war jetzt das Büro des Schulleiters und seiner Sekretärin.
Der Rektor der Schule hatte erst vor kurzem sein Amt angetreten, nachdem er lange auf diese Beförderung zum Schulleiter gewartet hatte. Ein Mann mittleren Alters, der in seiner vorherigen Position Konrektor gewesen war. Er hatte ganz oben auf der Beförderungsliste gestanden, und es kam ihm sehr gelegen, als die Stelle an der Víðigerði-Schule frei wurde, denn er wohnte in einem Reihenhaus ganz in der Nähe.
Erlendur und Sigurður Óli wurden erwartet. Sie stellten sich vor, und nachdem sie auf zwei harten Stühlen vor dem Schreibtisch des Schulleiters Platz genommen hatten, kam er direkt zur Sache. Erlendur kam sich beinahe so vor wie während der eigenen Schulzeit, wenn man zum Rektor zitiert wurde.
»Grauenvoll, was da mit Halldór passiert ist«, erklärte der Schulleiter. Er hieß Kristinn, war leicht korpulent und trug ein Haarteil von der Sorte, das niemanden im Unklaren darüber ließ, dass damit eine Glatze verdeckt werden sollte. Falls jemand den Mut gehabt hätte, Kristinn zu sagen, dass all diese Haarteile in unterschiedlichen Ausführungen zehnmal schlimmer aussahen als eine ganz normale Glatze, wäre Kristinn sicherlich Manns genug gewesen, seine ganze Sammlung zu entsorgen. Aber niemand traute sich, die Toupets auch nur mit einem Wort zu erwähnen. Seine Frau bestand darauf, die Glatze zu verhüllen, weil es ihn jünger aussehen ließ. Der Schulleiter sah allerdings nicht besonders würdevoll aus, wenn er durch die Schule schritt und die Kinder sich heimlich über ihn lustig machten.
»Du hast Sigurður Óli telefonisch zu verstehen gegeben, dass es Probleme zwischen Halldór und den Schülern gegeben hat, und weil wir zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die geringsten Verdachtsmomente gegen irgendjemand anderen haben, konzentrieren sich unsere Ermittlungen im Augenblick auf die Schule und womöglich ihre Schüler«, sagte Erlendur, der sich unwillkürlich in seinen dichten Haarschopf fasste.
»Entschuldigung, was willst du damit sagen?«
»Das, was zwischen uns hier besprochen wird, muss unter allen Umständen vertraulich behandelt werden, das ist unerhört wichtig. Es handelt sich um Mord.«
»Ist Halldór ermordet worden?«
»Darauf
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