Menschenteufel
siebzigjährigen Bestehen 1966 umfasste lediglich
vierzig Seiten. Zerkratzte und unscharfe Schwarz-Weiß-Aufnahmen der
vorangegangenen Jahrzehnte dokumentierten das wechselvolle Schicksal der
Einrichtung. Die Moden der Kinder änderten sich, der Ausdruck in ihren Gesichtern
nicht. Aus jedem Bild sahen Petzold große Augen voll Vorsicht und Argwohn
entgegen. Streng blickende Männer in steifen Krägen trugen Ehrfurcht gebietende
Titel. Der Hof des Heimes hatte sich seit der Gründung nicht wesentlich
verändert, sah man vom Inventar des Spielplatzes ab. Immerhin unterschied er
sich bereits deutlich von den kleinen Exerzierplätzen für den Militärnachwuchs,
aus denen moderne Kinderspielplätze Ende des neunzehnten Jahrhunderts langsam
hervorgegangen waren. In blumigen Worten wurden die fortschrittlichen
Erziehungsmethoden gepriesen. Für Petzold jedoch klang zwischen den Zeilen bis
in die sechziger Jahre der Drill der »Fürsorgeerziehungsanstalt« durch. Auf der
letzten Doppelseite wurde Leben und Wirken Gottfried Mandtners in Wort und Bild
gewürdigt. Eine Aufnahme des Direktors im Kreise mehrerer honoriger
Herrschaften ließ Petzold genauer hinschauen. Die Namensaufzählung in der
Bildunterschrift bestätigte ihren Verdacht.
Da war er wieder. Das Gesicht schräg links hinter dem Heimleiter.
Unter den wachsenden Gewittertürmen drückte die Schwüle noch
heftiger auf die Innenstadt als am Vortag. Petzold erreichte das
Innenministerium fünf Minuten nach vier Uhr. Schlechter Einstand.
Im selben Besprechungszimmer wie beim letzten Mal warteten Pribil,
Krischintzky und Bohutsch mit den beiden Amerikanern Wilson und Shackleton.
Petzold entschuldigte sich atemlos für ihre Verspätung und setzte sich.
Ohne sie eines Blickes zu würdigen, fuhr Bohutsch mit einem Vortrag
fort, den ihre Ankunft unterbrochen hatte.
»In Österreich konnten wir keine Kontakte von Colin Short alias
Muhamad al-Musharaf zu mutmaßlichen Terroristen feststellen. Wir haben seine
Telefonate aus dem Hotel und von seinem Mobiltelefon ebenso überprüft wie sein
Surfverhalten im Internet. Kontakt aufgenommen hat er definitiv zu zwei
Personen, die aber bisher in keiner Weise in Verbindung zum Terrorismus stehen.
Interessanter ist da schon der Ort seiner Auffindung. Er lag praktisch vor dem
Haus des syrischen Geschäftsmanns Tawfiq Khalil. Und da wird es spannend.«
Er verteilte Kurzdossiers an alle außer Petzold. »Oh, habe ich eines
zu wenig. Na, ich trage ohnehin alles vor.«
Thorney Shackleton, der neben Petzold saß, schob seine Ausgabe
zwischen sie beide, sodass Petzold mitlesen konnte.
Mehrere Bilder zeigten einen schwergewichtigen Mann mit kurz
getrimmtem Vollbart, im Anzug, auf dem Golfplatz, beim Spazierengehen, mit
Menschen in traditionell arabischer Kleidung. Auf den Folgeseiten vermittelte
ein Wust von Tabellen und Diagrammen mit Unternehmensbeteiligungen und
Geschäftsverbindungen plus erklärenden Texten den Eindruck eines
verschachtelten Imperiums. Petzold überflog sie, während Bohutsch referierte.
»Khalil hat mehrere Wohnsitze. In Damaskus, Kairo, London und Wien.
In Österreich hält er sich selten auf. In der Tatnacht beispielsweise.
Offiziell führt Khalil mit seinen beiden Söhnen Anwar und Ibrahim ein
Handelsunternehmen. Dieses pflegt unter anderem Geschäftsverbindungen zum in
Wien lebenden Jordanier Muhamed Kankawi und dieser wiederum mit Hassan Almasri,
der im Übrigen nicht verwandt ist mit dem vor ein paar Jahren im Irak getöteten
Al-Qaida-Chef. Almasri seinerseits ist verschwägert mit Nessem Lahab. Und
diesem wird ein Naheverhältnis nachgesagt zum ›Verein der Förderer und Freunde
der friedlichen Beziehungen zwischen Österreich und Palästina‹. Das ist einer
jener Clubs, wie es sie in Wien und vielen anderen westlichen Ländern gibt, die
unter dem Deckmäntelchen der kulturellen Völkerverständigung von ihren hier
lebenden Landsleuten sogenannte Unterstützungsgelder und Spenden erpressen oder
auch ganz freiwillig bekommen und sie auf Umwegen an die palästinensischen
Terrororganisationen im Gaza-Streifen, Westjordanland, Libanon und in Syrien
weiterleiten. Die ausführlichen Details finden Sie in den Unterlagen. Wir haben
hier also eine direkte Verbindungskette von Colin Short zu Al-Qaida!«
Direkt ist relativ, dachte Petzold und erinnerte sich an die Behauptung,
dass jeder Mensch mit jedem anderen über maximal sechs weitere bekannt war.
Wenn das stimmte, brauchte man nur lange genug zu suchen und
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