Menschenteufel
hatte,
stieg kühle Luft aus seinem Grund auf. Zum zweiten Mal legte er jetzt die
Gabeln um, zum ungezählten Mal schielte er zu seinem Vater. In Gegenwart der
Feilers schien er sich nicht unwohl gefühlt zu haben.
Der Brotkorb stand auf dem Tisch, Aufschnitt lag im Kühlschrank
bereit, Saft für die Kinder und eine Weinflasche für die Erwachsenen.
Freund setzte sich auf einen Stuhl, wippte, stand wieder auf.
Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche. Wie änderte man die
Rufmelodie noch einmal?
Er brauchte, was ihm wie Stunden schien, aber nur eine Minute war,
um die Wahlfunktion zu finden. Die Liste möglicher Klingeltöne umfasste dreißig
Titel. Die meisten trugen Phantasienamen, weshalb Freund sie anhören musste, um
zu wissen, ob er sie mochte oder nicht. Dazwischen fanden sich ein paar Songanfänge,
die ihm Bernd einmal aufgespielt hatte.
Er entschied sich für das Intro von Led Zeppelins »Black Dog«.
Hardrock, kindisch. Weg damit. Vielleicht sollte er einfach ein
klassisches Telefontideli nehmen.
»Azzurro«, in der Version von Adriano Celentano. Verdammt, war das
schlecht! Richtig gut schlecht. Wo kam das überhaupt her? Von Bernd sicher
nicht.
Er würde sich lächerlich machen, nicht nur vor seinen Kindern.
Leise klang »Casta Diva« aus dem Kopfhörer seines Vaters.
Opernstücke gaben keinen guten Klingelton ab, zu leise, zu differenziert, zu
pathetisch. Jazz hatte er gerade gehabt. Funk oder Soul musste er sich von
Bernd erst aufspielen lassen.
Also »Azzurro«.
Er probierte ihn noch einmal aus. Soll sein. In der Anrufliste stand
noch immer die Nummer der Feilers. Sein Daumen spielte mit dem Cursorknopf. Sie
waren ganz nett gewesen. Schienen patent.
Irgendwann musste man mit jedem einen Versuch starten. Ganz gleich,
für wen er sich schließlich entschied. Das sollte er ohnehin machen. Mit allen
möglichen Kandidatinnen und Kandidaten. Ein paar Teststunden. Die Feilers
könnten morgen gleich einmal anfangen.
Er steckte das Telefon wieder weg.
Von Kindheit an hatte die Urania Lia Petzold begeistert. Was
weiter kein Wunder war, gehörten zur Erziehung jedes anständigen Wiener Kindes
die Besuche bei den Vorstellungen von Kasperl und Pezi im Urania-Puppentheater.
Petzold selbst war unzählige Male dort gewesen und hatte sich die Stimmbänder
wund gebrüllt, wenn das böse Krokodil oder die niederträchtige Hexe sich von hinten
an den Kasperl anschlichen. Erleichtert und mit dem guten Gefühl, dass das Gute
am Schluss immer über das Böse siegt, hatte sie das Haus anschließend an der
Hand ihrer Mutter verlassen, um im Sommer noch ein Eis am Schwedenplatz und im
Winter einen Topfenstrudel bei der Aida spendiert zu bekommen.
Der Bau am Donaukanal mit seinem plumprunden Hauptteil, auf dessen
kurzem Turm die Halbkugel der Sternwarte saß, hatte bald einhundert Jahre
überlebt und thronte mit verdienter Gelassenheit über dem modernen Treiben zu
seinen Füßen.
Nach den Vorbildern von Paris und Berlin hatte auch Wien in den
ersten Jahren des neuen Jahrtausends »urbane Strände« entwickelt. Auf dem
schmalen Streifen zwischen Wasser und den vielspurigen Hauptverkehrsstraßen an
beiden Uferseiten schütteten findige Unternehmer oder politische Parteien Sand
auf, stellten Liegestühle hin, schenkten Getränke aller Art aus und brachten
damit die Stadt wieder ein klein wenig näher ans Wasser. Der erste und immer
noch schönste war jener auf dem weitläufigen Areal unterhalb der Urania, wo
Petzold und Shackleton zwei Liegestühle direkt am Wasser ergattert hatten. Am
gegenüberliegenden Ufer leuchteten die Steinwände unterhalb der Straße entlang
des Fußwegs noch in den letzten Sonnenstrahlen. Vom Donaukanal stieg Petzold
ein Geruchspotpourri aus Schlamm, Fisch und Algen in die Nase, das immer wieder
von Parfumwolken durchzogen wurde. Dank des Niveauunterschieds zur Straße war
der dichte Verkehr nur ein entferntes Rauschen und verschwand fast hinter der lauten
Musik. Petzolds Blick wanderte von der Urania-Silhouette zum Badeschiff.
Tatsächlich lag seit einigen Jahren ein Schiff mit Schwimmbecken im Wasser des
Donaukanals. Petzold hatte sich so ihre Gedanken gemacht zu dem Umstand, dass
man in den Kanal ein Schiff zum Baden setzte, statt gleich ein Bad im
eigentlichen Gewässer einzurichten. Doch gerade diese Widersinnigkeit zog die
Leute an. Gemeinsam mit den Stadtstränden bildete das Ensemble einen von
Petzolds bevorzugten Sommeraufenthaltsorten neben Museumsquartier und
Naschmarkt, wenn sie
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