Menschenteufel
Appetit verdorben. Nachdenklich kaute er
auf seinem Frühstück herum. Er versuchte sich an den familiären Gesprächen zu
beteiligen. Wirklich gelingen wollte es ihm nicht. Die Kinder gierten schon
wieder nach dem Bad. Sollten sie. Um Papa kümmerte sich jetzt Frau Feiler.
Claudia erinnerte ihn an das Blumengießen und die Post in der Wohnung.
Hoffentlich dachte er daran. Natürlich hatte sie recht. Wie immer. Neben der
Mörderjagd durfte man die Blumen und die Post nicht vergessen. Vor allem nicht
die Blumen. Ebenso wenig wie die freundlichen Bemerkungen gegenüber den
Nachbarn, Zähneputzen und das restliche Leben. Vater schlürfte sein Müsli. Die
Pflegerin nippte still an ihrem Kaffee.
Auf dem Weg ins Büro hielt Freund bei einer Trafik. Schnell
studierte er die Titel der anderen Tageszeitungen. Zwei weitere machten
ebenfalls groß mit Bodert auf. Da hatte jemand sein Wissen breiter gestreut.
Das sprach gegen eine Beteiligung von Petzolds Freundin. Der Verräter sitzt in
unseren eigenen Reihen, dachte Freund.
Die Einsatzzentrale war voll besetzt. Vierzig Männer und ein paar
Frauen nahmen Anrufe entgegen, sortierten Hinweise, studierten Unterlagen.
Weitere vierzig waren unterwegs in Wien und Umgebung. Schon gestern hatten sie
Arbeitskollegen des Täters aufgesucht. In Boderts zurückgelassenen Unterlagen
fanden sie zahlreiche Adressen. Alle mussten befragt werden. Vier Beamte sprachen
mit ehemaligen Heimkameraden. Freund hatte sie besonders auf Ida Freichl und
Martin Tarosch hingewiesen. Zum Thema Kindesmissbrauch sollten sie auch bei den
anderen Heiminsassen nachfragen. Natürlich mussten auch die Unterlagen von
Mariabitt sorgfältig seziert werden.
Nicht mehr befragen konnten sie eine der möglicherweise
aussichtsreichsten Quellen. Das kinderlose Lehrerehepaar Bodert, das den Jungen
im Alter von sieben Jahren adoptiert hatte, war vor drei Jahren bei einem
Autounfall ums Leben gekommen. Freund hatte mehrmals die Verzweiflung von
Eltern erlebt, deren Kinder zu Mördern geworden waren. Abgesehen von zwei
gefühllosen Soziopathen, die wohl eher aus Zufall nicht selbst schon früher
jemanden umgebracht hatten, wurden sie von Selbstzweifeln zerfressen. Häufig
zerbrachen Ehen und ganze Familien an den Ereignissen. In seltenen Fällen
fanden sie dadurch wieder zusammen. Freund wusste nicht, was er in so einem
Fall tun würde. Am besten dachte er darüber gar nicht nach.
In seinen E-Mails fand er keine interessanten Neuigkeiten. Dann
überflog er alle neuen Einträge in der Wissensdatenbank der Sonderkommission.
Über Nacht waren mehrere Dutzend hinzugekommen. Die Beamten kamen mit dem
Aktualisieren nicht nach. Entscheidende Hinweise gab es bis jetzt keine.
»Möchtest du die ersten Interviews mit Boderts Heimgenossen hören?«
In der Tür stand Marietta Varic und bedeutete ihm mitzukommen.
»Tarosch und Freichl waren sofort zu Aussagen bereit.« Varic und
Spazier hatten die Aufnahmen der Gespräche bereits auf den Server überspielt.
Zuerst spielte Freund die Befragung der Frau ab.
Ihre Stimme passte zu den Bildern der Webseite. Leise, trotzdem
enthusiastisch und überdreht. Instinktiv spürte Freund einen Widerwillen gegen
sie. Die Ursache dafür konnte er nicht benennen. Trotzdem musste er versuchen,
so objektiv wie möglich zu bleiben.
Freund hörte Marietta Varics Stimme mit einer einfachen Frage
eröffnen: »Kennen Sie diesen Mann?« Sicher zeigte sie ihm Boderts Bild.
Freichl kannte ihn nicht.
»Können Sie sich an diesen Jungen erinnern?«
Eine Aufnahme von Norman Bodert als Kind. In der Wohnung hatten sie
alte Fotoalben gefunden.
Kurzes Schweigen. Dann: »Ja. Aber den Namen weiß ich nicht mehr.«
»Auf Ihrer Internetseite behaupten Sie, im Kinderheim Mariabitt
missbraucht worden zu sein.«
»Genau genommen war es nicht im Heim. Sein Leiter, Gottfried
Mandtner persönlich, brachte mich in die Wohnungen oder Häuser verschiedener
Männer. Manchmal mehrmals pro Woche.«
»War einer von diesen dabei?«
Freund hatte die Idee gehabt. Nehmt zu den Befragungen Bilder von
Wuster, Murnegg-Weiss und Köstner aus der Zeit mit, als die angeblich
Missbrauchten Kinder waren. Und dazu noch ein paar Fotos von Unbeteiligten.
Insgesamt konnten die Interviewten aus zehn Personen wählen. Jeder davon war
eine Nummer zugeteilt worden.
Ein paar Sekunden blieb es still, während Ida Freichl die Aufnahmen
betrachtete. Als sie wieder sprach, hatte sich ihre Stimme verändert. Kalt,
wütend, hoffnungslos.
»Der da.
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