Menschenteufel
den Kopf.
»Diesen Moment vergessen Sie nie wieder in Ihrem Leben, so kitschig
das auch klingt. Aber ich war Mutter geworden.«
Wieder wanderte ihr Blick zum Fenster hinaus.
»Die nächsten Wochen waren unerträglich. Der Kleine war mein Ein und
Alles. Seine Hautfarbe und die feinen schwarzen Löckchen erinnerten mich an
Alvin. Er hatte das Lächeln seines Vater. Ich weiß nicht, wie die Natur das
macht. Ich hatte noch nie Vergleichbares für einen Menschen empfunden. Am
liebsten hätte ich ihn nie wieder losgelassen. Er roch, roch so gut.«
Ihre Stimme wurde hohl und fiel um eine Oktave.
»Wissen Sie, wie meine Mutter zu dem Kleinen sagte? Affenbaby.
Stellen Sie sich das vor! Sie war die Pest. Und sie bekam Verstärkung von der
ganzen Verwandtschaft. Sie haben keine Ahnung davon, welchen Hass diese
Menschen gegen das kleine, wehrlose Wesen entwickelten. Ich war geschwächt und
mit den Nerven am Ende. Sie bearbeiteten mich von allen Seiten. Heute versteht
man das nicht mehr. Damals war eine Frau ohne Mann wenig wert.«
Bitter lachte sie auf. »Obwohl wir während der letzten Kriegsjahre
und auch danach das meiste allein durchstehen durften. Die Männer mussten ja
Krieg spielen. Trotzdem galt eine ledige Mutter in dieser Gesellschaft nichts.
Und die ledige Mutter eines kaffeebraunen Kindes mit schwarzer Krause stand auf
gleicher Stufe mit einer Prostituierten. Oder sogar noch darunter. Das machte
mir meine liebe Verwandtschaft eindrücklich klar. Auf der Straße wurde hinter
meinem Rücken getuschelt. Wir wurden sogar bespuckt! ›Schokoladenmädchen‹ war
noch eine freundliche Bezeichnung. ›Negerhure‹, riefen die meisten. Irgendwann
hatten sie mich so weit. Ich wollte nicht, dass mein Kind in einem solchen
Umfeld aufwächst. Nicht dass ich der Adoption freudig zugestimmt hätte. Aber
ich wehrte mich nicht mehr dagegen. Eines Tages ließ ich mich von meiner Mutter
aufs Amt schleifen und setzte meine Unterschrift unter die notwendigen
Dokumente. Bereits drei Tage später wurde Alvin, wie ich ihn nach seinem Vater
getauft hatte, abgeholt. Eine Woche lang habe ich geheult. Ich weiß nicht,
wohin er gekommen ist. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Bis heute ist kein Tag
vergangen, an dem ich nicht an ihn gedacht habe.«
Als halte sie ein Kleinod, hob sie den Ausdruck an.
»Das Einzige, was ich dem Kind mitgeben konnte, war ein Bild seiner
Eltern. In der Hoffnung, dass er es irgendwann zu sehen bekäme. Ich hatte nur
eines, auf dem Alvin und ich gemeinsam waren. Dieses hier.«
Petzold hätte zahllose Fragen gehabt. Haben Sie nach ihm
gesucht? Wie verlief Ihr Leben danach? Hatte sie noch geheiratet? Wieder Kinder
bekommen? Die Familienbilder auf der Kommode legten es nahe. Vielleicht waren
es aber auch Nichten und Neffen. Sie ließ Emmi Wildschek eine kurze
Erinnerungspause. Selbst vertrug sie auch einen Moment, um das Gehörte zu
verdauen. In ihrem Kopf formte sich ein abenteuerlicher Gedanke. Zuerst jedoch
musste sie ihren Fall lösen. Sie hakte nach.
»Alvin Tomlins war vor seinem Tod also einer gemeinen Sache auf der
Spur. Hat er mehr erzählt? Worum es sich dabei handelte?«
»Ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Ich war damals so
aufgewühlt, wollte seine Erklärungen nicht hören. Aber er wollte mir auch
nichts sagen. An eines kann ich mich noch erinnern: Er wollte, dass ich den
Umgang mit meinen Bekannten aus dem Schwarzhandel beende. Ich sollte sie nicht
mehr wiedersehen.«
»Warum?«
»Sie seien schlechte Menschen, sagte er. Aber er hatte leicht reden.
Als Soldat war er ja gut versorgt.«
Jetzt legte Petzold ihren Finger auf das Bild. »Wer sind die
anderen?«
»Michael Jung, er war einer der beiden Schwarzmarktmänner, von denen
ich erzählt habe, Kilian Stiks, Justus … Fein, ich, Bill Cornick, Alvin, Karo
Wassak und Wilfried Brack. Von Fein, Wassak und Brack habe ich gehört, dass sie
gestorben sind. Von den anderen weiß ich nichts.«
Petzold fiel eine Frage ein, die sie bei den Stiks vergessen hatte.
»Wer hat das Foto gemacht?«
»Der zweite Schwarzmarktmann, Gerwald Köstner.«
Da war er wieder. Zur Sicherheit wiederholte sie den Namen und
fragte: »Können Sie mir mehr über ihn erzählen? Womit handelte er? Was tat er?«
In Wildscheks Augen blitzte kurze Verwunderung auf.
»Mit allem Möglichen. Das Übliche. Zigaretten. Medikamente,
Lebensmittel, aber zum Beispiel auch Arbeit. Er kannte unheimlich viele Leute,
heute nennt man das wohl kontaktfreudig, und konnte immer jemandem
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