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Menschenteufel

Menschenteufel

Titel: Menschenteufel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Raffelsberger
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erwiesen? Wenn die Phantasie in die Wirklichkeit
eingebrochen war? Wenn der Archetyp zum Leben erwacht wäre – und wieder
gestorben?
    »Ihr habt meine Bilder bekommen«, sagte Feidel. »Aber macht euch
darauf gefasst, dass die Wirklichkeit noch eines draufsetzt.«
    Das tat sie immer.
    Als sich Freund dem Leichnam erstmals frontal zuwendete, konnte er
ein neuerliches Schaudern nicht unterdrücken. Es kam von ganz tief drinnen.
Entweder stand er gleich vor einem sagenhaften Wunder, das die Geschichte des
Menschen neu schreiben würde. Oder er sah den bizarrsten Mord seit Bestehen der
Stadt. Bei jeder Leiche fiel sein erster Blick auf eine andere Stelle. Das
konnte eine besondere Wunde oder Verletzung sein. Bei manchen war es ein
Kleidungsstück. Oder eine Waffe. Ein seltsam positionierter Körperteil. Das
Gesicht, wenn man es sehen konnte. Eine Handhaltung. Gelegentlich sprangen ihm
winzige Details sofort ins Auge, als würden sie mit einem Scheinwerfer
angestrahlt. Ein abgebrochener Fingernagel. Ein Schlammspritzer am Oberarm. Ein
Wollfaden. Ein blauer Fleck.
    Freund hatte gelernt, dass es keine Bedeutung hatte, was seine
Aufmerksamkeit als Erstes erregte. Oft war es Zufall. Keinesfalls durfte er es
als besonderes Indiz werten und sich davon voreilig beeinflussen lassen. So wie
die ersten Lösungsideen bei einem Problem eigentlich nie die besten, sondern
lediglich die nächstliegenden waren.
    An der Kreatur, die vor ihm stand, stach ihm zuerst eine Linie ins
Auge. Eine klare Grenze in Zeiten, da es solche nur mehr selten gab. Sie
verlief entlang des Bauchs und teilte den Leichnam in zwei Hälften. Die obere
hautfarben und glatt, die untere rostbraun bis schwarz und haarig. Unweigerlich
widmete Freund sich zuerst dieser. Vielleicht, weil die obere eindeutiger war.
Verständlicher.
    Im ersten Moment glaubte er, der Mann trage eine Fellhose. Dann
glitt sein Blick abwärts. Der runde, komplett mit kurzen, braunen Haaren
bedeckte Bauch ging in einen prallen Hodensack mit dünnem Penis und zwei
stramme Oberschenkel über, die für einen Menschen oben zu dick und unten zu
dünn waren. Endgültig jeden humanen Eindruck zerstörten die nach hinten
geknickten Knie. Sie setzten sich in spindeldürren Unterschenkeln fort und
endeten in zwei Paarhufen.
    Der Unterleib eines Ziegenbocks.
    Freund war die korrekte Anatomie des Tiers bewusst. Was in diesem
Arrangement wie der Oberschenkel wirkte, war tatsächlich der Unterschenkel. Der
vermeintliche Unterschenkel dagegen war bereits der Mittelfuß. Und die Hufe
entsprachen den menschlichen Zehen. Aber eigentlich war das unwichtig.
    Sie standen am Boden.
    Dazwischen, etwas nach hinten versetzt, steckte eine Metallstange.
Sie verschwand nach oben irgendwo hinter dem Rücken.
    Der Oberkörper gehörte einem alten Mann. Sein Bauch war so rund wie
jener der Ziege. Darüber hingen die zwei schlaffen Brüstchen eines
untrainierten Sechzigjährigen. Dazwischen kräuselten sich ein paar graue Haare.
    Die Arme waren zur Seite ausgestreckt, bereit zur Kreuzigung oder
Gott anzurufen. Die Hände nach oben geöffnete Krallen, die das Leben
schließlich doch hatten loslassen müssen. Das blutüberströmte Gesicht war
himmelwärts gewandt. Sein Ausdruck bestärkte Freunds Verdacht. In seinen
letzten Momenten hatte der Mann eine grausame Hinrichtung erlitten und um
überirdische Hilfe gefleht. Weit aufgerissene Augen starrten hoch ins Blau. Der
Mund musste unerträgliche Schmerzen herausgebrüllt haben, so weit stand er
offen.
    Die Proportionen des Oberkörpers ließen auf einen durchschnittlich
großen Menschen schließen. Durch die kürzeren Ziegenbeine war die gesamte Figur
nur etwa eineinhalb Meter hoch.
    Die Kopfhaltung ließ erst auf den zweiten Blick den Ursprung des
Bluts erkennen. Wo sich zu Jugendzeiten der Haaransatz des Mannes befunden
haben musste, wucherten zwei dunkelrot verkrustete Rosetten. Aus ihnen, als
wären sie frisch durch die Haut gebrochen, ragten zwei gewundene Hörner.
    »Der Teufel«, flüsterte Wagner.
    Niemand antwortete.
    Dank Harrys Fotos hatte Freund gewusst, was ihn erwartete. Er hatte
sich darauf vorbereitet. Er hatte gehofft, mit dem Kopf seinen Bauch
kontrollieren zu können. Vergeblich. Ein bitteres Gefühl breitete sich in
seinem Magen aus und stieg den Hals hoch. Er atmete mehrmals tief durch. Neben
sich hörte er Spazier gleichfalls vernehmlich Luft holen. Alle Farbe war aus
ihren Gesichtern gewichen.
    »So ging es mir am Anfang auch«, erklärte Harry, fast

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