Menschenteufel
fröhlich.
»Dann gewöhnt man sich daran.«
Da war sich Freund noch nicht so sicher.
Er kannte das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts von Gräueltaten.
Zur Überwältigung der Angst, nie wieder vergessen zu können, hatte er
Strategien entwickelt. Nur gegen diese neue Hoffnungslosigkeit hatte er kein
Mittel. Seit den Kindern war er an zu wenig Schlaf gewöhnt. Doch am
Schlafmangel lag diese Müdigkeit nicht.
Er sah sich um. Über die Jahre hatte er sich angewöhnt, einen Tatort
zuallererst auf sich wirken zu lassen. Wie ein Schwamm saugte er jeden Eindruck
auf, wissend, dass sein Gehirn jetzt nicht alles erkennen, sehr wohl aber sehen
und in irgendwelchen verborgenen Windungen abspeichern würde. Dort vermischten
sich diese Eindrücke unbemerkt mit anderen. Irgendwann während der Ermittlungen
tauchten sie dann wieder auf. Wie jenes Wort, das einem stundenlang auf der
Zunge liegt, aber nicht herauswill, um sich am nächsten Tag im eigenartigsten
Moment ins Bewusstsein zu drängen.
Er trat einen Schritt näher und beugte sich zu der Verbindungslinie
von Mensch und Tier. Neben ihn hockte sich die Medizinerin, Doktor Romana
Wanek. Freund kannte und schätzte sie seit Jahren. Den Anfang gemacht hatte
eine eigenartige Antwort. Wenn man das erste Mal zusammenarbeitete, wurden zu
vorgerückter Stunde früher oder später immer die Fragen gestellt.
»Warum sind Sie Inspektor bei der Kriminalpolizei geworden?«
»Und warum sind Sie Gerichtsmedizinerin?«
»Weil ich kein Blut sehen kann.«
Auf seinen verdutzten Blick hatte sie schallend gelacht.
»Im Ernst. Ich bemerkte es erst während meines ersten Praktikums in
einem Krankenhaus. Wenn echtes Blut aus lebenden Menschen fließt, lande ich auf
dem Rücken wie eine Fliege im November. Bei Toten dagegen macht es mir nichts
aus.«
Sie platzierte den Ringfinger ihrer rechten Hand auf der Haut, den
Zeigefinger darunter auf dem Fell. Damit spannte sie die beiden Häute
auseinander. Wo sie aufeinandertrafen, blieb eine schmale Furche.
»Wie sind sie verbunden?«, fragte Freund verblüfft. Noch einmal
flackerte die absurde Idee in seinem Hirn auf, es könnte sich um etwas anderes
als eine wahnsinnige Verstümmelung handeln.
»Ich weiß es noch nicht. Vermutlich von innen genäht. Auf jeden Fall
hat hier ein Profi gearbeitet.«
Freund hockte sich noch tiefer. Oberhalb eines Hufes schien ein Bein
verletzt.
»Was ist das?«
»Weiß ich auch noch nicht. Entstand auf jeden Fall post mortem.
Vielleicht während der, wie soll man sagen, Operation. Oder erst hier.
Tierfraß. Kann sein, dass eine Ratte daran geknabbert hat. Oder ein Marder.«
Freund kämpfte das Würgen zurück.
Die Metallstange zwischen den Beinen. Sie hielt den Körper in seiner
Position. Noch immer in der Hocke, watschelte Freund wie eine Ente zwei
Schritte, um ihren Ursprung an der Rückseite auszumachen. Sie verschwand unter
dem Ziegenschwanz.
»Rektal eingeführt«, erklärte die Ärztin. »Wie tief, können wir erst
bei der Obduktion klären.«
Von hinten mutete der Körper ebenso grotesk an. Über dem
Ziegenunterleib verjüngte sich der alte Menschenrücken nach oben. Er war
übersät mit Altersflecken. Der weiße Haarkranz war blutverklebt.
Freund richtete sich auf. Er zeigte auf die Arme.
»Und hier?«
»Die Blutergüsse? Vielleicht wurde er gefesselt. Oder festgehalten«,
sagte die Medizinerin.
Wagners Lippen waren fast in seinem Mund verschwunden.
»In Wien rennt also ein absolut Wahnsinniger herum.«
Die Planenspanner waren mit ihrer Arbeit beinahe fertig. Freund
musste an den Running Fence der Künstler Christo und Jeanne-Claude denken. Nur
dass dieser Zaun sie einschloss. Mit einer toten Kreatur, halb Mensch, halb
Ziege. Er fühlte sich beengt.
»Was soll das nun wirklich darstellen?«, fragte Varic zornig.
Bei dem Gedanken an die Symbolik der Figur fühlten sich alle noch
unbehaglicher, als es ohnehin bereits der Fall war. Mit dem Bösen konfrontiert
wurden sie in ihrem Beruf jeden Tag. Aber noch nie hatte es ihnen
personifiziert gegenübergestanden.
»Hat der Teufel nicht nur ein behuftes Bein?«, fragte Spazier.
»Eines oder zwei«, dozierte Wagner. »Seine heidnischen Vorbilder
hatten zwei. Die christliche Kirche hat die alten Gottheiten kurzerhand
übernommen und in die eigene Ikonographie eingearbeitet. So wie sie es auch mit
Festen und Riten getan hat. Weihnachten, Ostern, Pfingsten, ursprünglich alles
keine christlichen Feste. Um den Mönchen die Missionierung und den
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