Menschenteufel
auf.
Sofort wählte Freund die Telefonnummer der Altenbetreuerin seines
Vaters. Er wusste, dass sie um diese Uhrzeit bereits bei ihrer ersten Klientin
war. Alte Leute wachten früh auf.
Sie meldete sich nach dem vierten Freizeichen. Freund erklärte ihr
seine Notlage.
»Hören Sie«, antwortete die Frau mit ihrer schnarrenden Stimme,
»wenn es nach meinen Klienten ginge, müsste ich dauernd überall sein. Und ich
könnte viermal so viele betreuen. Ich komme Ihnen ohnehin schon entgegen, indem
ich in die Weingärten am A… der Welt fahre. Ich bin froh, wenn ich es von
Ihrem Hüttel da draußen rechtzeitig zu meinem nächsten Termin schaffe. Es tut
mir leid, aber Sie werden sich wen anderen suchen müssen.«
Um acht Uhr war die gesamte bisherige Mannschaft der
Sonderkommission anwesend, inklusive Staatsanwalt Holtenstein und
Untersuchungsrichterin Gantz, Psychologe Anton Blilorek und Kriminaltechniker
Pascal Canella. Der Nebenraum wurde bereits umgebaut für die Verstärkung. Im
Laufe des Vormittags wurden weitere dreißig Personen erwartet. Inspektoren aus
verschiedenen Wiener Abteilungen, aber auch aus Niederösterreich und der
Steiermark waren nach Wien abkommandiert worden.
Obratschniks Männer saßen nur ein paar Räume weiter, weshalb Freund
sie nicht mit den übrigen zusammenzwang. Der blöde Machtkampf würde sie schon
so genug behindern. Der Leiter der Gewaltgruppe Eins schilderte der gesamten
Soko die Ereignisse und Erkenntnisse der Nacht. Die Obduktion dauerte noch an.
Über genaue Todesursache und ungefähren Zeitpunkt würden sie frühestens in ein
paar Stunden mehr erfahren. So lange mussten sie auch mit der endgültigen
Identifizierung warten. Ein Vergleich von Aufnahmen der Toten mit Bildern
Hermine Rothers ließen jedoch wenig Zweifel offen. Bei der Entstellten handelte
es sich um die vermisste Geschäftsfrau.
Freund brachte sein Team auf den neuesten Stand. Schweigend hörten
sie zu und betrachteten die Fotos. »Das entlastet natürlich Norbert Lindl bis
zu einem gewissen Grad. Er war während der Tatzeit in Untersuchungshaft. Gibt
es endlich ein Untersuchungsergebnis seines Chirurgenbestecks?«
Varic wedelte mit einer Mappe. »Das nimmt Lindl noch weiter aus der
Schusslinie. Die Instrumente wurden schon länger nicht mehr benutzt und mit
Sicherheit nicht an Wuster. Außerdem fehlen ein paar Teile, die für die
Operation notwenig sind. Was nichts bedeuten müsste«, fügte sie hinzu, »weil
sie woanders liegen könnten. Aber wie es aussieht, müssen wir den Mann erst
einmal freilassen.«
»Hat er denn noch etwas Neues erzählt?«
»Er ist felsenfest bei seiner Version geblieben«, sagte Spazier.
»Brams Anrufe, die drei Henker, die das Haus durchsuchten und ein paar Kisten
mitnahmen. Er selber unschuldig und ahnungslos.«
»Er hat kein Alibi«, warf Wagner ein.
»Wir lassen ihn trotzdem gehen«, entschied die Untersuchungsrichterin.
»Sobald die Obduktion vorüber ist, muss er ohnehin in die
Gerichtsmedizin, um Hermine Rother zu identifizieren«, erklärte Freund.
»Nicht zu beneiden, der Arme«, flüsterte Varic.
»Wir stehen also wieder ganz am Anfang«, sagte Wagner.
»Nicht doch«, meinte die Untersuchungsrichterin. »Wir haben einen
zweiten Mord. Das ist zwar alles andere als erfreulich, aber es bringt uns
zahlreiche neue Spuren. Gemeinsam mit denen aus dem ersten Fall spannen sie das
Netz immer enger.«
Im Internet fand Freund unterschiedliche Definitionen von
Harpyie. Zuerst stieß er auf die Beschreibung eines südamerikanischen
Raubvogels gleichen Namens. Das Tier mit schwarzem Rücken und weißem Bauch
erreicht bis zu zwei Metern Spannweite und kann die Federn um den Kopf zu einem
eindrucksvollen Schopf sträuben. Weibchen werden ein Drittel größer als
Männchen.
Über die Wesen der griechisch-römischen Mythologie gingen die
Quellen auseinander. Das fing schon beim Aussehen an. Ältere Erzählungen
schilderten sie als wunderschöne Frauen mit langen, schwarzen Haaren und
Vogelflügeln. Spätere Sagen redeten von hässlichen Dämonen mit Vogelleibern,
dazu Kopf und Arme ausgemergelter Frauen. Umgeben von Aasgestank. Der Name
bedeutet »Rafferin«. Er bezog sich auf die ihnen zugesprochene Neigung zu
Diebstahl von Nahrung und Kindern. Unklar waren auch ihre Anzahl und die Namen.
Manche gaben nur drei an: Aello, die Windbö, Okypete, die Stromschnelle, und
Podarse, leichte Flügel, die manchmal auch Kelaino, die Dunkle, genannt wird.
Andere machten aus letzterer zwei und
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