Menschliche Kommunikation
jedoch, dass Symbolbildung auch dort auftritt, wo Digitalisierungen nicht mehr möglich sind, und dass dies typischerweise dann der Fall ist, wenn eine Beziehung in gesellschaftlich oder moralisch tabuierte Bereiche (z. B. Inzest) hineinzuwachsen droht.
3.6 Störungen in symmetrischen
und komplementären Interaktionen
Um einem häufigen Missverständnis vorzubeugen, kann nicht
eindrücklich genug darauf verwiesen werden, dass Symmetrie
und Komplementarität nichts mit Werturteilen wie «gut» oder
«schlecht», «normal» oder «abnormal» und dergleichen zu tun
haben. Die beiden Begriffe beziehen sich ganz einfach auf zwei
grundlegende Kategorien, in die sich alle zwischenmenschlichen
Kommunikationen einteilen lassen. Von dem wenigen, das wir
über «gesunde», tragfähige Beziehungen wissen, können wir
annehmen, dass in ihnen beide Formen zusammenwirken, wenn
auch abwechselnd oder auf verschiedenen Gebieten der Partnerbeziehung. Das bedeutet, wie noch näher gezeigt werden soll, dass
sich die beiden Formen gegenseitig stabilisieren können, wenn in
einer von ihnen eine Störung auftritt, und dass es außerdem für die
Partner nicht nur wünschenswert, sondern sogar unerlässlich ist,
sich in bestimmten Belangen symmetrisch, in anderen komplementär zu verhalten.
3.61 Symmetrische Eskalationen. Wie alle Kommunikationsstrukturen, so tragen auch diese beiden Formen in sich den Keim
zu spezifischen Störungen, die hier zuerst kurz beschrieben und
dann mit klinischen Beispielen belegt werden sollen. Wir haben
bereits auf die stets vorhandene Gefahr von Eskalationen in symmetrischen Beziehungen verwiesen. Sowohl Individuen als auch
Nationen scheinen Gleichheit (Symmetrie) am beruhigendsten
zu finden, wenn sie, um George Orwells berühmten Ausspruch
zu gebrauchen, selbst «ein bisschen gleicher» als die anderen sind.
Diese Tendenz zu mehr als gleicher Gleichheit bedingt die typische eskalierende Eigenschaft symmetrischer Beziehungen, sobald diese ihre Stabilität zu verlieren beginnen. In Ehekonflikten
z. B. lässt sich leicht beobachten, wie das Verhalten der Partner
so lange eskaliert, bis sie schließlich einen Punkt körperlicher
oder emotionaler Erschöpfung erreichen, worauf eine Periode unsicheren Waffenstillstands folgt, bis sich die Partner für die
nächste Runde genügend erholt haben. Die Störungen symmetrischer Beziehungen sind daher durch mehr oder weniger offenen
Kampf, dem Schisma im Sinne Lidz' [93], gekennzeichnet. Dies
bedeutet, dass sie meist in der Verwerfung der Selbstdefinition
des Partners bestehen.
In einer stabilen symmetrischen Beziehung sind die Partner imstande, den anderen in seinem Sosein zu akzeptieren, was zu gegenseitigem Respekt und Vertrauen in den Respekt des anderen führt und damit zu einer realistischen gegenseitigen Bestätigung der Ich- und Du-Definitionen.
3.62 Starre Komplementarität. In komplementären Beziehungen ist dieselbe gegenseitige Bestätigung der Selbstdefinitionen möglich. Die Störungen der Komplementarität unterscheiden sich dagegen grundlegend von denen der Symmetrie und führen meist zur Entwertung statt zur Verwerfung der Selbstdefinition des Partners. Aus diesem Grund sind sie von größerem psychopathologischen Interesse als die mehr oder weniger offenen Konflikte in symmetrischen Beziehungen.
Ein typisches Problem in einer komplementären Beziehung entsteht z. B. immer dann, wenn A von B die Bestätigung seiner (A's) Selbstdefinition fordert und diese im Widerspruch zu B's Bild von A ist. Dies versetzt B in eine eigenartige Zwangslage: Er muss seine Selbstdefinition so abändern, dass sie die Selbstdefinition von A komplementiert und damit ratifiziert, denn es liegt in der Natur komplementärer Beziehungen, dass eine Selbstdefinition nur dadurch aufrechterhalten werden kann, dass der Partner die betreffende komplementäre Rolle spielt."
Ohne Kind gibt es keine Mutter, doch die Formen der Mutter-Kind-Beziehung verändern sich natürlich im Laufe der Zeit. Dieselbe Beziehungsform, die für das Kind im Frühalter biologisch und emotional lebenswichtig ist, würde seine weitere Entwicklung stark beeinträchtigen, wenn sich die Beziehungsstruktur nicht in angemessener Weise mitentwickeln könnte. Dasselbe gilt praktisch für jede andere Beziehung, die anachronistisch erstarrt oder umgekehrt sich allzu früh verändert. Wegen ihrer größeren psychiatrischen Auffälligkeit haben die Störungen der komplementären
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