Menschliche Kommunikation
der Teile
im Interesse der Gestalt zu vernachlässigen und die Aufmerksamkeit der Kernfrage zuzuwenden, nämlich der Frage der Organisation. Nicht nur in der Psychologie ist der Begriff der Gestalt ein
Ausdruck des Prinzips der Übersummation; auch auf anderen
Wissensgebieten wächst das Interesse an dem synonymen Begriff
der Neubildungen (emergent qualities), die sich aus der Verbindung von zwei oder mehr Elementen ergeben. Das einfachste Beispiele hierfür findet sich in der Chemie, wo die Verbindungen von
verhältnismäßig wenigen Elementen zu einer immensen Vielfalt von neuen Substanzen führen. Ein anderes Beispiel ist die sogenannte Moire-Musterung - optische Interferenzerscheinungen,
die sich aus der Überlagerung von zwei oder mehreren Rastern
ergeben In beiden Fällen sind die Resultate von einer Komplexität, die quantitativ und qualitativ weit über die Summe der Einzelbestandteile hinausgeht. Bemerkenswert ist ferner, dass kleine
Veränderungen in den Beziehungen zwischen den Bestandteilen
im Resultat häufig um ein Vielfaches vergrößert aufscheinen, d. h.,
es ergeben sich daraus andere chemische Substanzen oder eine
weitgehend veränderte Moire-Konfiguration. In der Physiologie
finden wir einen ähnlichen Kontrast zwischen Virchow'scher
Zellpathologie und modernen zytologischen Auffassungen, wie
z. B. der von Weiß [157]. In ähnlicher Weise stellen wir hier bei der
Untersuchung zwischenmenschlicher Beziehungen moderne
Kommunikationstheorien den klassischen monadischen Auffassungen gegenüber. Wenn menschliche Interaktion als ein Derivat
individueller «Eigenschaften» wie Rollen, Werte, Erwartungen,
Motivationen usw. verstanden wird, so ist das Resultat (zwei oder
mehrere miteinander in Wechselbeziehung stehende Individuen)
in der Sprache der Systemtheorie ein «Haufen», der in einfachere
(individuelle) Einheiten unterteilt werden kann. Im Gegenteil
dazu ergibt sich aus dem ersten Axiom der Kommunikation - dass
alles Verhalten Kommunikation ist und man nicht nicht kommunizieren kann -, dass Kommunikationsabläufe unteilbar, also
übersummativ sind.
4.312 Eine andere Theorie der Kommunikation, die im Gegensatz zum Prinzip der Ganzheit steht, ist die der einseitigen Beziehungen. In dieser Sicht wird der Einfluss eines Senders auf einen
Empfänger, nicht aber dessen Rückwirkung auf den Sender
untersucht. Wenn wir uns das Beispiel der kritisierenden Frau
und ihres passiven Mannes (vgl. Abschnitt 2.42) in Erinnerung
rufen, so sehen wir, dass sich eine solche Verhaltensfolge zwar
von den Teilnehmern selbst als linearer Ablauf auffassen und
interpunktieren lässt, dass sie in Wirklichkeit aber kreisförmig ist und jede Reaktion gleichzeitig auch den Reiz für das nächste Verhalten des Partners darstellt. Die Behauptung, As Verhalten
bedinge B's Verhalten, lässt also die Wirkung von B's Reaktion
auf As nächstes Verhalten unberücksichtigt und läuft insofern auf
eine Verkennung des Ablaufs hinaus, als damit gewisse Verbindungen betont, andere verwischt werden. Besonders dann, wenn
die Beziehung komplementär ist, wie zwischen Führer und
Geführten, einer starken und einer schwachen Person, Eltern und
Kindern, ist es nur zu leicht möglich, die Ganzheit der Interaktion aus dem Auge zu verlieren und sie in voneinander unabhängige lineare Kausaleinheiten zu zerlegen. Vor diesem Trugschluss
wurde bereits in den Abschnitten 2.62 und 2.63 gewarnt, und
diese Warnung gilt auch für die langfristigen Interaktionen, von
denen dieses Kapitel handelt.
4.32 Rückkopplung. Wenn die Teile eines Systems nicht summativ
oder einseitig verbunden sind, wie hängen sie dann zusammen?
Da wir diese beiden klassischen Auffassungen verworfen haben,
scheinen nur die fragwürdigen vitalistischen oder metaphysischen Alternativen übrig zu bleiben, die schon im 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts ihrer Teleologie wegen verrufen
waren. Wie aber bereits in Abschnitt 1.3 erwähnt, führt das
Umdenken von Energie und Materie auf Information aus dem
unfruchtbaren Streit zwischen teleologischen und deterministischen Auffassungen heraus. Seit der Formulierung der Kybernetik und der «Entdeckung» der Rückkopplung hat es sich gezeigt,
dass die Kreisförmigkeit der Struktur und Dynamik komplexerer
Systeme zu sehr verschiedenen, aber keineswegs unerforschbaren
Erscheinungen führt. Rückkopplung und Kreisförmigkeit, wie
sie im 1. Kapitel beschrieben und im 2. und 3. Kapitel
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