Menschliche Kommunikation
gelenkt, die sowohl für alle Teilnehmer wichtig als auch von Dauer sind; Beispiele dafür sind Freundschaften, gewisse geschäftliche oder berufliche Beziehungen und vor allem Ehe- und Familienbeziehungen [69]. Ganz abgesehen von ihrer Bedeutung als soziale oder kulturelle Institutionen, haben solche länger dauernde Beziehungen (d. h. Beziehungen mit einer spezifischen «Entwicklungsgeschichte») eine besondere heuristische Bedeutung für die Pragmatik der menschlichen Kommunikation. Denn in solchen Beziehungen ist es nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidbar, Kommunikationsabläufe zu wiederholen, und damit ist die Voraussetzung für das Auftreten der von uns beschriebenen Pathologien gegeben. Kurzfristig bestehende Gruppen von aufeinander nicht bezogenen Individuen oder Zufallsbegegnungen können interessantes Material liefern, doch wenn man nicht an einmaligen, künstlich geschaffenen oder nur kurze Zeit dauernden Beziehungsformen interessiert ist, erweisen sich diese Formen bei weitem nicht so bedeutsam wie die in länger dauernden Beziehungen auftretenden, in denen sich die Eigenschaften und Pathologien menschlicher Kommunikation mit viel größerer pragmatischer Klarheit abzeichnen.'
4.411 Vielfach erhebt sich die Frage: Warum besteht eine bestimmte Beziehung? Warum dauern gewisse Beziehungen an, obwohl die Partner dabei unglücklich und unbefriedigt sind, und
warum brechen sie die Beziehung nicht nur nicht ab, sondern
machen ihr Weiterbestehen durch oft ungemein schmerzvolle
Anpassungen möglich? Diese Fragen legen Antworten nahe, die
mit Motivation, Bedürfnis, sozialen oder kulturellen Faktoren
und ähnlichen Gegebenheiten zusammenhängen und die alle
zweifellos in gewissem Grad zutreffend sind.
Die Frage: Warum?, ist aber immer eine Frage nach Ursachen,
die in der Vergangenheit liegen. Wie wir bereits sahen, ist sie zum
Verständnis geschlossener Systeme unerlässlich, während ihr
Wert angesichts der Äquifinalität offener Systeme zumindest
fragwürdig ist. Wenn, wie wir glauben, die Organisation offener
Systeme die beste Erklärung der Systeme selbst ist, so lautet die
zu stellende Frage nicht: Warum funktioniert das System? sondern: Wie funktioniert das System? Wie z.B. ein Elektronengehirn arbeitet, lässt sich in Form seines Programms, des Reichtums
seiner inneren Verbindungen, der Ein- und Ausgaberelationen
und vieler ähnlicher Tatsachen erklären. Ein Marsbewohner
könnte nach genügend langer Beobachtung der Maschine verstehen, wie sie funktioniert, ohne deswegen aber bereits zu wissen,
warum. Diese Frage wäre für ihn eine grundsätzlich andere und
bestimmt keine einfache. Das Elektronengehirn funktioniert u. a.
deswegen, weil es an eine Energiequelle angeschlossen ist; es
funktioniert außerdem in einer bestimmten Weise, weil es in einer
bestimmten Weise konstruiert ist oder - im teleologischen Sinn -
weil es für einen bestimmten Zweck gebaut wurde. In einer allumfassenden Sicht kann das Warum von Energie und Zweck nicht
ignoriert werden; dem Marsbewohner aber steht die Einsicht in
dieses Warum nicht offen - er hat nur die jetzt und hier funktionierende Maschine vor sich, so wie wir in unseren Untersuchungen auf die gegenwärtige Beziehungsstruktur angewiesen sind.
4.42 Die einschränkende Wirkung aller Kommunikation. Der
Hauptgrund, weshalb wir eine anscheinend so engstirnige Auffassung vertreten, ist der, dass den Kommunikationsprozessen selbst - jenseits von Motivation und reiner Gewohnheit - identifizierbare Faktoren innewohnen können, die einer Beziehung
Zusammenhalt und Dauer verleihen.
Wir wollen diese Faktoren unter dem Begriff der einschränkenden Wirkung der Kommunikation zusammenfassen, indem
wir feststellen, dass in einem Kommunikationsablauf jeder Austausch von Mitteilungen die Zahl der nächstmöglichen Mitteilungen verringert. Die Tatsache dieser Beschränkung ergibt sich
bereits aus dem ersten Axiom, wonach in einer zwischenpersönlichen Situation die Freiheit des Nichtkommunizierens nicht
besteht. Unter komplizierteren Umständen ist die Einschränkung
der Reaktionsmöglichkeiten noch viel drastischer. In Abschnitt
3.23 sahen wir zum Beispiel, dass es möglich ist, die Verhaltensvarianten aufzuzählen, die sich aus der Zufallsbegegnung zweier
einander Unbekannter ergeben können. Dies gilt natürlich für
jeden zwischenmenschlichen Kontext; jede Mitteilung wird zu
einem Bestandteil des Kontextes und bedingt die nachfolgenden
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