Menschliche Kommunikation
sie sich in einem unerhörten religiösen Dilemma. Vom Zwang abgesehen - war der Eid
bindend oder nicht? Wenn sie Christen bleiben wollten, machte
dann nicht gerade dies den Schwur bindend und exkommunizierte sie? Wenn sie sich dagegen aufrichtig vom Christentum
abkehren wollten, waren sie dann nicht gerade durch den Schwur
umso fester daran gebunden? In letzter Konsequenz bricht die
Paradoxie hier in die Metaphysik ein. Es liegt im Wesen jedes
Schwurs, dass er auch die angerufene Gottheit bindet. War dann
aber für den Bekehrten nicht Gott selbst in einer unhaltbaren
Situation, und wenn ja, wo bestand dann noch irgendwelche
Hoffnung auf einen Ausweg?
Die Paradoxie muss aber auch die Verfolger selbst erfasst
haben. Es konnte ihnen unmöglich entgangen sein, dass die
Eidesformel den christlichen Gott über ihre eigenen Götter
setzte. Anstatt daher «den Vater, den Sohn, den Heiligen Geist,
die heilige Maria und alle Engel» aus den Seelen ihrer Opfer zu
verbannen, setzten sie sie sogar auf den Thron ihrer eigenen Religion. Sie mussten sich also schließlich im Widerspruch ihrer eigenen Eidesformel verwickelt gefunden haben, die dem abschwört,
was sie anruft, und anruft, wem sie abschwört.
An dieser Stelle ist es angebracht, kurz zum Thema der Gehirnwäsche Stellung zu nehmen, also einer Beeinflussung, die sich fast
ausschließlich auf pragmatische Paradoxien zu stützen scheint.
Die Geschichte lehrt, dass es grundsätzlich zwei Arten von Usurpatoren des Geistigen gibt: jene, für die die körperliche Vernichtung der Andersdenkenden eine hinlängliche Lösung ist und die
sich wenig darum kümmern, ob sie das Denken ihrer Opfer
«wirklich» ändern, und jene, denen aus eschatologischer Rücksicht, die eines besseren Zwecks würdig wäre, sehr viel daran liegt.
Wir können annehmen, dass die Letzteren im Vorgehen der Ersteren einen schockierenden Mangel an Geistigkeit beklagen, doch soll uns das hier nicht weiter beschäftigen. Jedenfalls besteht das
Hauptanliegen der zweiten Gruppe in der seelischen Verwandlung ihrer Opfer und erst dann in ihrer Vernichtung. O'Brien, der
Folterer in Neunzehnhundertvierundachtzig, ist ein vollendeter
Meister auf diesem Gebiet, das er seinem Opfer erklärt:
... Für jeden Ketzer, den man auf dem Scheiterhaufen verbrannte, standen tausende andere auf. Warum das? Weil die Inquisition ihre Feinde in
der Öffentlichkeit tötete und sie tötete, während sie noch unbußfertig
waren: recht eigentlich sie deshalb tötete, weil sie unbußfertig waren. Die
Menschen starben, weil sie ihren wahren Glauben nicht aufgeben wollten ... Später ... da gab es die deutschen Nazis und die russischen Kommunisten ... Wir begehen keine solchen Fehler. Alle Geständnisse, die
hier abgelegt werden, sind echt. Wir machen sie echt. Sie werden sowohl
aus der Vergangenheit wie aus der Zukunft gestrichen. Sie werden überhaupt nie existiert haben.»
Warum sich dann die Mühe machen, mich zu foltern? dachte Winston ...
O'Brien lächelte leise. «Sie sind ein Fehler im Muster. Sie sind ein Fleck,
der ausgemerzt werden muss. Habe ich Ihnen nicht soeben gesagt, dass
wir anders sind als die Verfolger der Vergangenheit? Wir geben uns nicht
zufrieden mit negativem Gehorsam, auch nicht mit der kriecherischsten
Unterwerfung. Wenn Sie sich am Schluss beugen, so muss es freiwillig
geschehen. Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn niemals. Wir
bekehren ihn, bemächtigen uns seiner geheimsten Gedanken, formen ihn
um. Wir brennen alles Böse und allen Irrglauben aus ihm aus; wir ziehen
ihn auf unsere Seite, nicht nur dem Anschein nach, sondern tatsächlich,
mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem der Unsrigen, ehe wir ihn
töten. Es ist für uns unerträglich, dass irgendwo in der Welt ein irrgläubiger Gedanke existieren sollte, mag er auch noch so geheim und machtlos
sein.» [109, S. 296ff.]
Hier also ist die «Sei spontan!»-Paradoxie in ihrer krassesten
Form. Der Leser wird freilich nicht im Zweifel darüber gelassen,
dass O'Brien wahnsinnig ist, aber während O'Brien nur eine
Romanfigur ist, ist sein Wahnsinn der eines Hitlers, Himmlers,
Heydrichs und vieler anderer.
Beispiel 7: Eine sehr ähnliche Situation wie zwischen den
japanischen Christen und ihren Verfolgern ergab sich 1938 zwischen Sigmund Freud und den Nazibehörden, nur dass in diesem Fall die Paradoxie vom Opfer den Verfolgern
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