Mephisto
Kräfte des Körpers wie die der Seele mit großer Heftigkeit in Anspruch nimmt. Übrigens begann Ulrichs das Bild, das er sich vor vielen Jahren von seinem Kameraden Hendrik gemacht und seitdem mit so viel Treue und Geduld im Herzen bewahrt hatte, allmählich zu revidieren. Ulrichs war ein sehr gutmütiger und sogar weicher Mensch gewesen, bei allem revolutionären Elan. Zu Höfgen hatte er ein großes, unerschütterliches Vertrauen gehabt. ›Hendrik gehört zu uns!‹ hatte er mit seiner warmen, überzeugenden Stimme jedem geantwortet, der Zweifel an der moralischen und politischen Zuverlässigkeit seines Freundes laut werden ließ. Hendrik gehört zu uns! Mit vielen Illusionen hatte er Schluß gemacht, unter anderem auch mit denen, die Hendrik Höfgen betrafen. Er war nicht mehr gutmütig und nicht mehr weich. Sein Blick hatte einen drohenden, fast lauernden Ernst bekommen, der ihm früher fremd gewesen war. Seine Augen hatten ihre sympathische Offenheit eingebüßt; was sie dafür nun besaßen, war eine genau abwägende, durchdringende, ruhige und gesammelte Kraft.
Otto Ulrichs hatte jetzt den gespannten, lauschenden Gesichtsausdruck, die zugleich vorsichtigen und kühnen, sprung- und fluchtbereiten Gesten eines Menschen, für den es geraten ist, beständig auf der Hut zu sein. Und auf der Hut mußte er sich wirklich befinden, zu jeder Stunde seines schwierigen und gefährlichen Tages. Denn Otto Ulrichs spielte ein gewagtes Spiel.
Er blieb Mitglied des Staatstheaters: aber nur, um jenen Rat zu befolgen, den Hendrik selber ihm gegeben hatte – wahrscheinlich ohne ihn seinerseits sehr ernst zu meinen –; er benutzte seine Stellung an dem offiziellen Institut als eine Art von Rückendeckung, die ihn vor einer gar zu genauen Überwachung und Kontrolle durch die Beamten der Gestapo schützte. Wenigstens war dieses seine Hoffnung und Berechnung. Vielleicht täuschte er sich. Vielleicht wurde er von Anfang an beobachtet, und man ließ ihn nur eine Zeitlang gewähren, um ihn später um so sicherer zu packen und ein möglichst umfangreiches belastendes Material bei ihm zu finden. Ulrichs glaubte nicht, daß man ihm schon auf den Spuren sei. Die Mitglieder des Ensembles, die zunächst einen mißtrauischen Bogen um ihn gemacht hatten, begegneten ihm jetzt mit kollegialer Herzlichkeit. Es war ihm gelungen, sie durch sein männlich einfaches, unbefangen heiteres Wesen zu gewinnen. Denn er hatte die Kunst der Verstellung gelernt. Sein fanatisch auf ein Ziel gerichteter, zu jedem Opfer glühend bereiter Wille hatte ihn schlau werden lassen.
Er war sogar dazu imstande, mit der Lindenthal zu scherzen. Er versicherte dem Charakterspieler Joachim, daß er nicht die geringsten Zweifel an seiner Reinrassigkeit hege. Er begrüßte die Bühnenarbeiter demonstrativ mit der vorgeschriebenen Formel: dem ›Heil!‹, dem der gehaßte Name des Diktators folgte. Wenn der Ministerpräsident in seiner Loge saß, behauptete Ulrichs, daß er Herzklopfen habe aus Erregung darüber, daß er vor dem großen Mann spielen dürfe. Herzklopfen hatte er wirklich, aber von einem Schauder, in dem Triumph und Angst sich vermischten. Denn der Vorhangzieher, mit dem er im Bunde stand, hatte ihm, als er nach seiner Szene die Bühne verließ, etwas zugeraunt, was auf eine illegale Versammlung Bezug hatte. Beinah unter den Augen des furchtbaren Dicken, des allerhöchsten ordengeschmückten Henkers, erkühnte sich dieser kleine Schauspieler, der die Schrecken der Folterkammern und der Lager kannte, seine unterminierende, zersetzende, aufrührerische Arbeit gegen die Macht weiter zu tun.
Die Begegnung mit den Schrecken hatte seine Kräfte nur eine kurze Zeit lang gelähmt. In den ersten Wochen nach seiner Entlassung aus dem Inferno war er in einem Zustand der Erstarrung gewesen. Seine Augen hatten geschaut, was kein Menschenauge sieht, ohne zu erblinden vor übergroßem Jammer: die ganz nackte, ganz entfesselte, mit einer schauerlichen Pedanterie organisierte Niedertracht; die absolute und totale Gemeinheit, die, indem sie Wehrlose martert, sich noch selber feiert, ernst nimmt, glorifiziert als die patriotische Tat, als die moralische Erziehungsleistung an ›destruktiven, volksfremden Elementen‹, als sittlicher, notwendiger und gerechter Dienst am erwachten Vaterland.
»Man möchte am liebsten gar nichts mehr von den Menschen hören und wissen, wenn man sie erst einmal in diesem Zustand gekannt hat«, sagte Ulrichs. Aber er liebte die Menschen, und
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