Mephisto
Vortrag über ›das Zeittheater und seine moralischen Pflichten‹ zu halten. Kroge, der für dieses Thema eine immer neue Begeisterung aufbrachte, stellte Höfgen für einen Sonntagvormittag das Künstlertheater zur Verfügung. Hendriks Vortrag war teils aus dem Vokabular seines enthusiastischen Direktors, teils aus dem Wortschatz Otto Ulrichs recht wirkungsvoll zusammengestellt: eine pathetische und unverbindliche Ansprache, in der sowohl die liberal gesinnten, als auch die marxistisch-revolutionären jungen Leute im Parkett viele ihrer Lieblingsschlagworte wiederfanden. Am Schluß klatschten alle Beifall, und beinah alle waren überzeugt von Hendriks redlichem künstlerisch-politischem Willen – der ihm am nächsten Morgen von den Zeitungskritikern ausführlich bestätigt wurde.
Auf solche Bestätigung hatte Hendrik Höfgen gewartet. »Nun ist die Situation reif, wir können handeln«, konstatierte er und tauschte Verschwörerblicke mit Ulrichs. Die erste Probe für das Revolutionäre Theater wurde festgesetzt. Freilich war es nicht jenes radikale Stück, welches man im vorigen Jahr ausgesucht hatte, das nun einstudiert werden sollte. Vielmehr hatte sich Hendrik, im letzten Augenblick und aus taktischen Gründen, für eine Kriegstragödie entschlossen, deren drei düstere Akte das Elend des Winters 1917 in einer deutschen Großstadt schilderten und einen allgemein pazifistischen, aber keineswegs deutlich sozialistischen Charakter hatten. Barbara entwarf die Dekorationen: ein finsteres Hinterzimmer, eine graue Gasse, in der die Frauen um Brot anstanden. Otto Ulrichs und Hedda von Herzfeld sollten die Hauptrollen spielen.
Höfgen, der Regisseur, entwickelte großen Elan auf der ersten Probe. Als er mit verhaltenem, schlichtem Pathos die große Anklagerede deklamierte, die Frau von Herzfeld zum Schluß des dritten Aufzuges in ihrer Rolle als tragische Mutter zu halten hatte, mußte Otto Ulrichs sich verstohlen die Augen wischen, und selbst Barbara war beeindruckt. – Auf der zweiten Probe aber litt Hendrik an einer nervösen Heiserkeit; zur dritten erschien er hinkend – sein rechtes Knie sei plötzlich steif geworden, klagte er, er könne es gar nicht mehr biegen. Auf der vierten schließlich zeigte er ein so fahles und böses Gesicht, daß alle sich vor ihm fürchteten – nicht ganz grundlos, wie sich herausstellen sollte, denn er befand sich in entsetzlicher Laune, nannte Frau von Herzfeld eine ›dumme Gans‹ und drohte der Souffleuse Efeu mit fristloser Entlassung. »Sie sabotieren unsere Arbeit«, schrie er sie an. »Meinen Sie vielleicht, ich wüßte nicht, warum. Vermutlich haben die Parteifreunde des Herrn Miklas Ihnen den Auftrag dazu gegeben! Aber wir werden euch das Handwerk legen – Ihnen, Ihrem Herrn Miklas, dem sauberen Herrn Knurr und der ganzen verfluchten Bande –, das lassen Sie sich gesagt sein!« Es nutzte der Efeu nicht, bitterlich zu weinen und immer wieder ihre Unschuld zu beschwören.
Nach dieser Probe – die allen, welche an ihr teilgenommen hatten, in sehr häßlicher Erinnerung blieb – legte sich Höfgen zu Bett und bekam Gelbsucht. Vierzehn Tage lang betrat er nicht das Theater. Ulrichs, Bonetti und Hans Miklas durften sich in seine großen Rollen teilen. Nach seiner Genesung erschien er immer noch recht matt und mitgenommen, und seine Edelsteinaugen waren gelblich getrübt. Die Eröffnung des Revolutionären Theaters wurde auf unbestimmte Zeit verschoben: der Arzt hatte es Herrn Höfgen ausdrücklich verboten, sich noch irgendwelche Arbeiten, außer den unvermeidlichen und laufenden, zuzumuten.
Mindestens einen gab es im Ensemble des Künstlertheaters, für den diese Entwicklung der Dinge eine große Freude war: Hans Miklas strahlte und triumphierte. Er habe es ja gleich gewußt, daß die ganze Geschichte mit dem sogenannten Revolutionären Theater ein ausgemachter Schwindel sei – erklärte er laut im H. K., und die strafenden Blicke der Frau von Herzfeld konnten ihn nicht davon abhalten, es mehrfach zu wiederholen. Sein trotziges Gesicht schien erhellt von dem starken Vergnügen, welches ihm das Fiasko des Revolutionären Theaters bereitete; einen ganzen Tag lang war er wohlgelaunt, pfiff und summte, hatte keine schwarzen Löcher in den Wangen, hustete gar nicht und lud sogar die Efeu zu einem Schnaps ein: solches war noch niemals geschehen, die gute Frau sagte: »Junge, Junge, du bist ja heute ganz aus dem Häuschen!«
Natürlich konnte der schöne Zwischenfall die
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