Mephistos Erben: Kriminalroman (German Edition)
etwas Besseres, als ich es bin.«
Als sie am nächsten Morgen erwacht war, fand sie das Bett neben sich leer. Sie war erleichtert; nur die stickige Luft barg noch die Erinnerung an die vergangene Nacht. Sie musste mit Ellen reden. Entschieden hatte sie sich eine Jogginghose angezogen und ein Sweatshirt übergestreift.
Sie sah sich in ihrer Erinnerung in Ellens Zimmer stehen, als sei es gestern gewesen. Sie wusste noch genau, dass es sie nicht überrascht hatte, als sie Sven auf Ellens Schreibtischstuhl sitzend vorfand, mit der Zigarette im Mundwinkel.
Als er sie von oben nach unten gemustert hatte, war ein böswilliges Lächeln auf seinem Gesicht erschienen. Ellen hatte lässig am Türrahmen gelehnt und ab und zu an ihrer Kaffeetasse genippt.
»Du hast mir nicht zu viel versprochen, Ellen.«
Sven zog aus seiner Jeans einen Fünfzig-Mark-Schein und warf ihn auf den Schreibtisch. Er blieb neben einem halbleeren Whiskeyglas liegen. Entsetzt hatte sie auf Ellen, auf den Tisch und dann in den Spiegel gegenüber der Tür gestarrt, in ihr eigenes Gesicht.
Heute stand vor ihr auf dem Tisch kein Whiskeyglas, sondern ein Rotweinkelch, aber die Demütigung fühlte sie wie vor zwanzig Jahren. Und da war unerwartet noch etwas anderes. Es ergoss sich wie glühende Lava, es überschwemmte ihr Gemüt mit Hitze. Sie konnte sich keine Rechenschaft ablegen über die Herkunft und Quelle dieser Empfindung – sie war einfach da, stark und reinigend. Dieses gewaltige Gefühl riss sie mit. Sie hatte ihm nichts entgegenzusetzen. Ihr wurde schwindlig.
In der Küche setzte sie die Flasche Wasser an und trank in großen Zügen.
Wo war es? Sie hatte es doch so lange mit sich herumgetragen wie einen Schatz. Sie hatte es gehütet als eine Kos t barkeit. Eine Reliquie. Wie rasend wühlte sie in den Schubladen ihres Sekretärs. Da war es. Die mit rotem Samt ausgeschlagene Schatulle mit dem Medaillon. Sie schloss die Finger um das Schmuckstück aus kühlem Silber und zwang sich zur Ruhe. Noch einen letzten Blick. Ihre vor Erregung zitternden Finger hatten Mühe, den Verschluss zu lösen. Das Medaillon klappte auf. Die Fotos. Mit den Gesichtern der Mädchen.
Sie schloss ihre Hand zu einer Faust und brachte die Bilder so zum Verschwinden. Doch ihre Fingerspitzen fanden die feinen Rillen der Gravur: E & S. »Ellen und Susanna«, sprach sie die Namen mit heiserer Stimme aus. Sie knetete das Medaillon in der Hand, als sollte es etwas hervorbringen, etwas, um ihre Wut zu zähmen, etwas Beruhigendes oder Versöhnliches.
Aber es erhitzte sich bloß durch die Körperwärme. Susanna sah in den Schlafzimmerspiegel, der sie müde, bleich, mit glanzlosen Haaren und verzerrtem Gesicht zeigte.
Eine heftige Bewegung – der Spiegel zersprang. Sie lauschte dem Klirren der Scherben nach.
Eine wohltuende Erschöpfung erfasste ihren Körper. Sie ließ die Scherben liegen, da es ihr nicht gerechtfertigt schien, sie zu beseitigen, ging hinüber ins Wohnzimmer. Sie würde darüber mit jemandem sprechen, sie würde alles erzählen.
Sie ging zum Telefon und tippte die Nummer ein.
»Dies ist der Anschluss der Praxis Dr. Johannsen und Dr. Köller. Sie rufen außerhalb der Sprechzeiten an, können uns aber nach dem Signal eine Nachricht hinterlassen.«
Susanna sprach auf den Speicher des Anrufbeantworters, dass sie für den folgenden Tag gegen zehn Uhr dringend einen Termin benötige. Sie war zuversich t lich, dass es keine Schwierigkeiten geben würde. Sie strich sich die Haare glatt, ging in das Wohnzimmer zurück und nahm sich das Glas Rotwein vom Couchtisch mit zum Fenster. Sie schaute neben der halb zugezogenen Gardine auf die näch t liche, menschenleere Straße.
Lea saß mit Frederike und Marie am großen Esstisch. Sören hatte vor wenigen Minuten angerufen, dass er in einer halben Stunde zu Hause sein würde.
»Eigentlich sollte Papa nur dann anrufen, wenn er mal pünktlich kommt, da könnte er viele Telefonkosten sparen.«
Marie empfand die Unruhe, die sich aus Sörens Beruf ergab, zeitweise als sehr belastend. Und Lea war erstaunt, wie ernst Marie die häusliche Ordnung nahm.
Frederike sah es etwas lockerer: »Aber es ist doch schön, Papas Stimme öfters am Telefon zu hören.«
»Du findest eh immer alles toll«, maulte Marie die jüngere Schwester an.
»Und was hab ich davon, wenn ich so miesepetrig drauf bin wie du?«, wehrte sich Frederike prompt.
»Schluss jetzt! Streitet euch später weiter. Marie, holst du bitte den Nudelauflauf aus
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