Mercy, Band 2: Erweckt
krame das nächstbeste T-Shirt aus dem Kleiderhaufen auf ihrem Stuhl hervor und ziehe es an. Dazu Shorts. Ich bin wie farbenblind, das Top ist himmelblau, die Shorts kürbisgelb, weit und pludrig. Aber das ist mir egal. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe, und bin nicht mehr zu bremsen. In mir wurde ein Feuer entfacht.
Ungeduldig warte ich auf meine Ablösung, eine freundliche Frau namens Abby, die aushilft, bis Georgia hier sein kann.
„Georgia hat mir kurz berichtet, was gestern passiert ist“, flüstert Abby mir zu, während sie ihre Notfalltasche neben Mr s Neills Bett stellt. „Wir rufen Sie an, falls ihr Zustand sich ändert.“
Fast fliege ich den Weg hinunter. Am liebsten würde ich über den Zaun hechten, dem Busfahrer das Lenkrad aus seinen nikotinfleckigen Händen reiße n – dann könnten wir alle Haltestellen überspringen, die wütenden Leute stehen lassen und schneller in die Stadt kommen. Luc hat völlig Recht: Er kann mich nicht finden, und ich habe mich vergeblich nach ihm verzehrt, aber Ryan Daley ist sterblich. Er hat einen irdischen Körper mit einer irdischen Adresse. Ich habe ihn angefasst, Brot mit ihm gebrochen, ihn auf seinem Handy angerufen, ja, sogar bei ihm zu Hause gewohnt. Ich kenne seine Eltern und seine gehässige Ex-Freundin. Er lebt irgendwo an der Küste in einer kleinen Stadt namens Paradise, dem hässlichsten Ort, den ich je gesehen habe. Eine Stadt, deren Name der blanke Hohn ist. Aber das genau ist der Punkt: Wie viele Orte dieser Art kann es schon geben? Ich werde ihn finden.
Luc hingegen habe ich in den letzten beiden Jahrhunderten nur in meinen Träumen gesehen. Ich habe den Überblick verloren, wie lange es her ist, seit wir leibhaftig, in Fleisch und Geist, an einem Ort zusammen waren. In all dieser Zeit ist es mir nie gelungen, ihn aufzuspüren, nicht einmal nach den Andeutungen, die er fallen lässt, die ich aufsammle, wie Brosamen vom Tisch des Herrn. Bis mir aufging, was mit mir los ist, hielt ich Luc für ein Trugbild meiner kranken Einbildungskraft, einen wiederkehrenden Traum, eine himmlische Vision, die mich um meinen Frieden bringen sollte.
Mein Gedächtnis hat zwar immer noch Lücken, die groß genug sind, um eine Schiffsflotte durchzulassen, aber manche Dinge fügen sich allmählich zusammen. Denn gestern Nacht ist etwas mit mir geschehen. Was immer mich in diesem Zustand gefangen hält, in einem fremden Körper, dazu verdammt, den Geist in der Maschine zu spielen, seit mir Ryan Daley im Traum erschienen ist, hat sich etwas verändert.
Und vor allem: Keiner der Acht, nicht einmal Luc, ahnt auch nur im Geringsten, dass ich wieder da bin. In mir keimt etwas auf, das so lange abgestorben war: Hoffnung, eine unbändige Hoffnung, die beinahe wehtut.
M r Dimowski, Lelas Boss, steht heute Morgen hinter der Theke, und ich nicke in seine Richtung, bevor ich mich ins Frühstücksgetümmel werfe. Ich nehme die Bestellungen schnippischer entgegen als sonst und schiebe pausenlos Essen hinaus. Selbst Reggie staunt, wie ich mit den Kunden umgehe, den verhuschten, unterdrückten Frauen und den herrischen Alpha-Männchen, die hier hereintröpfeln, um sich den Bauch vollzuschlagen.
Vielleicht übertreibe ich ein bisschen, lasse zu viel von meiner wahren Persönlichkeit durchschimmern, denn M r Dimowski fragt mich mit seinem starken russischen Akzent: „Was ist los mit Ihnen, Lela? Achten Sie nicht auf Ihre Gesundheit? Sie sind so dünn geworden. Und Ihr Gesich t – irgendwas ist anders, schärfer. Schaffen Sie das eigentlich noch? Ich könnte sonst ein anderes Mädchen für den Job finden, okay? Wir brauchen hier keine zweite Reggi e – eine ist mehr als genug.“
Er hat feine Antennen, dieser Dimitri Dimowski. Das würde man ihm gar nicht zutrauen, so wie er aussieht. Er trägt eine Krawatte mit Comicfiguren zu einem gestreiften kurzärmligen Hemd, und das Hemd stopft er auch noch in seine enge braune Stoffhose, die an den Knien schon etwas fadenscheinig ist, sodass er von hinten wie ein gekochtes Ei aussieht. Sein dünnes graues Haar steht vom Kopf ab, als wollte es die Flucht ergreifen, er hat einen Schnauzbart und verquollene Augen. Sein Alter ist schwer zu schätze n – er kann alles zwischen fünfundfünfzig und fünfundsiebzig sein. Mit anderen Worten: Er wirkt wie ein gutmütiger Trottel, auf dem alle herumtrampeln. Aber das täuscht, und man sollte ihn nicht unterschätzen. Ich mag ihn jedenfalls.
„Tut mir leid, M r Dimowski“, sage ich, während
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