Mercy, Band 2: Erweckt
Züge vor meinen entsetzten Augen zu einer Karikatur, zu einer schrecklichen Karnevalsmaske. Dann zerbirst die Maske wie Glas, wie ein Spiegel, und sein Bild löst sich in Luft auf.
Ich bin wieder allein und schreie, ein Schrei, der die Welt aus den Angeln heben könnte. NEIN!
Ich falle, falle, falle durch den Nachthimmel. Glühe Richtung Erde wie Weltraummüll, der aus seiner Umlaufbahn gerissen wurde, wie ein tödlicher Meteor, und ich schreie und schreie, bis mir das sichtbare wie das unsichtbare Universum in Trümmern um die Ohren fliegt.
Kapitel 8
Ich schrecke im Körper eines fremden Mädchens aus dem Schlaf, auf einem Stuhl, in einem roten Schlafanzug mit abgewetzten Knien, als wäre ich gerade buchstäblich vom Himmel gefallen. Ich bin starr vor Angst, und es dauert lange, bis ich mich erinnere, wo ich bin, wer ich sein soll.
Endlich fängt mein geborgtes Herz wieder zu schlagen an, mein Atem wird leichter, mein Blick klarer. Der Tag bricht gerade an, wie ich an dem kühlen, durchsichtigen Licht erkenne, an der tiefen Stille draußen, die nur von Vogelzwitschern unterbrochen wird. Morgendämmerung. Ich fühle mich, als hätte ich Lichtjahre gebraucht, um aus unendlichen Fernen zurückzukehren und an Karen Neills Sterbebett zu sitzen.
Lelas Mutter schläft noch, atmet noch, ihr Zustand ist unverändert seit gestern Nacht.
Ich starre auf Lelas leicht zitternde Hände, drehe sie um und studiere die Handflächen. So klein, so gewöhnlich. Und doc h … in den Fingern der linken Hand spüre ich fast noch so etwas wie eine schwache Flammenspur.
Ich erinnere mich überdeutlich an meinen Traum, an jeden einzelnen Moment, als wären die Angst und die Wut, die mich überwältigten, tatsächlich der Schlüssel zu den Erinnerungen, die mir meine Feinde vorenthalten. Denn ich weiß jetzt, warum die Acht mein kurzes Gastspiel als Carmen Zappacosta aus meinem Gedächtnis gelöscht haben. Sie wollten Ryan Daley vor mir verstecken, seine Liebe zu mir.
Aber ich bin auch zornig auf mich selbst, weil ich es zugelassen habe. Weil ich zuließ, dass mir die Erinnerung an einen so einzigartigen Menschen geraubt wurde. Ohne Ryan wäre ich als Carmen unendlich einsam und verloren gewesen. Er hat mich als ebenbürtig akzeptiert, auf gleicher Augenhöhe mit mir geredet, als zählte meine Meinung wirklich, als gehörte ich selbstverständlich zu der Familie, in der ich mit ihm zusammen lebte. Das werde ich ihm nie vergessen. In seiner Gegenwart fühlte ich mich nicht al s … Freak. Ich hatte ihn gern, wollte mehr über ihn wissen. Ihn wollte ich nicht verlassen, obwohl ich immer wusste, dass dieser Moment kommen würde, und umso kostbarer war mir jede Sekunde mit ihm. Trotzdem kann ich mir keine Zukunft vorstellen, kein anderes Universum, in dem er und ich auf irgendeine Weise zusammen sein könnten, in welcher Gestalt oder Form auch immer. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als die Dinge wie Luc zu sehen: kalt, pragmatisch. Und dabei möglichst nicht an das andere zu denken, das Menschliche.
Du bist kein Mensch, sage ich mir grimmig. Warum benimmst du dich dann wie einer? Finde Ryan und warte dort auf Luc, das ist genug. Gefühle lassen sich unterdrücken. Du hast schon Schlimmeres überstanden.
Ja, weiß Gott, das habe ich.
Wacklig stehe ich auf und gehe in die Küche.
Wer weiß, vielleicht liegt es ja wirklich in meiner Macht, zu meinem wahren Selbst zurückzufinden, aber ich bin wie jemand, der nach einer langen Krankheit erst wieder gehen, reden und essen lernen muss. Die Verknüpfungen fehlen oder sind stark geschwächt. Ich habe viel aufzuholen. Aber ich lerne schnell. Ich bin jetzt wacher als ich je war. Körper und Seele finden wieder zusammen. Über Nacht hat sich etwas in mir regeneriert, sodass ich mich neu vernetzen kann.
Meine Blockaden lösen sich auf, und jetzt erinnere ich mich auch, dass ich als Carmen ungeahnte Kräfte mobilisieren konnte, was mir immer noch rätselhaft ist. Zum Beispiel konnte ich die Stimme eines fremden Mannes so perfekt nachahmen, dass sogar seine Frau darauf hereinfiel. Und ich besitze die Fähigkeit, Menschen mit bloßen Händen zu verletzen.
Pauls Augen, seine Ohre n – das war ich. Diese Tatsache jagt mir kalte Schauer über den Rücken.
Ich finde die Telefonnummer des Pflegeteams auf der Kühlschranktür, gehe zum Wandtelefon hinüber und wähle. Eine Frau antwortet und verspricht mir, eine Mitarbeiterin vorbeizuschicken.
Dann stürze ich durch den Flur zu Lelas Zimmer,
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