Mercy, Band 2: Erweckt
Tochter, die namenlose Angst, die sie in sich trägt, alles, was hinter der tapferen Fassade herumwirbelt, die sie Tag für Tag wie eine Rüstung angelegt hat.
Und trotz meines Widerstands, obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, ich nur noch herauswill aus diesem blutroten Albtraum, dieser Kathedrale des Schmerzes, der Erinnerung und der Reue, lasse ich mich hineinfallen und von der Flut überrolle n …
Es ist ein unbeschreibliches Gefühl. Zum Glück ist Mr s Neill von ihrer letzten Morphingabe bewusstlos, sonst würde sie spüren, wie mein Geist durch die chaotische Metropole ihres ausgezehrten Körpers taumelt. Ich fühle mich wie auf einer Rennstrecke, auf der ich willenlos entlangjage. Ich habe keine Kontrolle über die physische Welt und keine Ahnung, wohin der Weg führt und wie ich dieses unbeschreibliche Machtgefühl, dies e … Grenzenlosigkeit nutzen soll. Ich besitze die Fähigkeit, durch die kleinsten Mikromoleküle zu sausen, durch die dünnsten Zellwände, ohne dass ich diesen seltsamen Zustand steuern könnte, zugleich fühlend und flüssig, quecksilbrig, alles durchdringend, aber undurchdringlich.
Einst konnte ich es, aber jetzt nicht mehr. Das Handbuch, die Anleitung, ist verloren gegangen. Wenn nicht komplett gelöscht, so wurde es doch verändert, in einem unlesbaren Code geschrieben.
Denk nach, befiehlt meine innere Stimme streng. Erinnere dich, wie es war in deinem Traum neulich.
Jener schreckliche Albtraum, als Luc zur Strafe für meinen Ungehorsam mit mir durch einen Asteroiden zischte. Durch feste Materie.
Ich müsste weniger von Lela haben und mehr von mir selbst. Das ist klar.
Wenn es möglich ist, dass man seine Energie zerstäuben und in jede beliebige Form fließen lassen kann, müsste ich das auch schaffen, selbst jetzt, in diesem reduzierten Zustand. Dass ich diese Möglichkeit im Schlaf erblickt habe, ist der Beweis. Ich trage die Fähigkeit in mir, nur fehlt mir die Methode, die Technik, so wie ich mich nicht an die Bedeutung des Wortes Elohim erinnere. Aber all das ist nicht verloren, nur vergessen.
Luc hat mir einmal gesagt: Das Wissen ist in dir . Aber wo?
Ich habe jedes Raum- und Zeitgefühl verloren, als ich endlich ins Epizentrum von Karen Neills Leiden vordringe: ein pulsierendes Krebsgeschwür von zornig gelb-roter Farbe, wie ein Nest voll dicker Würmer, das tief in den Wänden und umgebenden Muskeln eines länglichen, röhrenförmigen Organs verankert ist. Die hässliche, schwellende Masse weist Spuren vergangener, kaum verheilter Operationen auf, die den Selbstzerstörungstrieb des Körpers nicht aufhalten konnten.
Ich bin umgeben von kranken Zellen, die wachsen, sich teilen, mutieren und sich ausbreiten und das gesunde Gewebe in der Umgebung zerstören. Als ich sie berühre, erkenne ich, dass diese Zellen nicht alt werden und absterben wie andere Zellen, sondern eine Art gefräßige Unsterblichkeit erlangt haben. Sie würden auch mich verschlingen, wenn ich wirklich aus Fleisch und Blut wäre.
Ich habe das Gefühl zu ertrinken. Wenn ich nicht bald einen Weg hinausfinde, komme ich hier nie mehr weg. Obwohl es nicht nur eine Bürde ist, sondern auch eine Auszeichnung, das hier miterleben zu dürfen, und ich sammle mich wie Flutwasser, wie ein Heuschreckenschwarm, wie der Heilige Geist selbst und durchstoße die Krebsmasse. Ich fließe durch alle Krankheitsherde und infizierten Stellen, ich zwinge mich, das Übel aus Karen Neills Körper herauszuätzen, sie von allem Bösen zu reinigen.
Aber ich schaffe es nicht. Alles, was ich sehe, berühre, schmecke, rieche und fühle, das den Keim der Krankheit in sich trägt, bleibt befallen. Endlich sagt eine leise Stimme in mir: Diese Seele ist dem Tod anheimgegeben. Azrael hat ihr sein Siegel aufgedrückt. Du kannst nichts mehr für sie tun.
Noch während mir dieser Gedanke durch den Kopf schießt, verfestige ich mich in rasendem Tempo und werde aus Karen Neills Körper hinausgeschleudert und wie von einem Gummiband oder unsichtbaren Seil wieder in Lela hineingezerrt.
Schweißüberströmt und zitternd komme ich zu mir und danke Gott, dass ich das lebendig überstanden habe.
Mr s Neill schläft weiter, träum t – wovon auch immer.
Endlich schlafe auch ich ein. Zu Tode erschöpft.
Und ich träum e – nicht von Luc und seiner unauslöschlichen Schönheit, seiner schlangengleichen Anmut, und auch nicht von Ryan, Lucs sterblichem Doppelgänge r – sondern von einem feinen silbrigen Nebel, der ins Zimmer dringt.
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