Mercy, Band 2: Erweckt
So unmerklich, dass er mir bereits bis über die Knöchel reicht, als ich im Traum erwache und mich von meinem Stuhl neben Mr s Neills Bett erhebe, während Lelas schlafender Körper reglos zurückbleibt.
Im Traum bin ich wieder diejenige, die ich einst war. Groß, bleich, leuchtend. Ein Wesen aus reinem Feuer.
Woher kommt der dünne Nebel, der stetig steigt und der Luft die Wärme entzieht? Jedenfalls nicht vom Mondlicht. Das hinterlässt einen feinen Silberhauch, der über allem lieg t – über Mr s Neills ausgezehrten, verkniffenen Zügen, über der schlafenden Lela, den aufgetürmten Habseligkeiten, die beiseitegeräumt wurden, um Platz für Bettpfannen und Waschschüsseln, einen Rollstuhl und einen Ventilator zu schaffen, das ganze Beiwerk, das einen Sterbenden begleitet und ihn in seinen letzten Tagen noch erdgebundener erscheinen lässt.
Und dann sehe ich ihn. Ich fahre zusammen, ein kalter Blitz zuckt über meine Haut.
Er steht vor einem der hohen Fenster, mit dem Rücken zu mir, und schiebt mit seiner blassen, leuchtenden Hand den schweren Vorhangstoff beiseite, um auf den mondbeschienenen Garten hinauszublicken, der jetzt von Nachtschatten und Zierspargel überwuchert ist. Er hat glattes, silbriges Haar, das er etwas zu lang trägt, jedes Härchen sitzt an seinem Platz. Und als er sich umdreht und mich ansieh t – seine Augen sind blau wie der Sommerhimmel, werden aber nachtschwarz, wenn er zornig ist, sein Gesicht ist jung, für immer alterslo s –, weiß ich, wer er ist, und neige mein Haupt vor seinem Anblick, der schrecklich und herrlich zugleich ist. Sein Name taucht sofort in meinem Gedächtnis auf.
„Azrael, der Todesengel“, sage ich laut.
Mercy , sagt er in meinem Kopf, denn er braucht keine körperliche Stimme. So nennst du dich jetzt, wie man hört.
Seine Stimme klingt belustigt. Er nähert sich langsam, schwebend, ohne dass seine Füße den abgetretenen, verblichenen Teppichboden berühren, der vor Jahrzehnten in diesem Zimmer gelegt wurde. Azrael hält nichts von den schneeweißen Gewändern, in denen mir meine Brüder von einst erscheinen, meine Folterknechte. Er trägt, was ihm passt, nur schwarz muss es sein.
Dicht vor mir bleibt er stehen. Er fasst mich nicht an, so wenig wie ich ihn, denn kaum einer überlebt Azraels Berührung. Selbst unter den Elohi m – und dazu gehört er, zu den Höchste n – stellt Azrael eine Macht für sich dar, eine Kraft, die Welten und Staaten umspannt, Leben und Tod. Er braucht keine Strategien und Machtspiele, er muss nicht Partei ergreifen. Er ist die Macht an sich; er besitzt eine außerordentliche Gabe, die nur ihm und keinem anderen gegeben ist.
Mein träumendes Ich erinnert mich daran, dass er aus Gründen hier ist, die nur er selbst kennt. Er ist keiner der Acht, das weiß ich mit Sicherheit, er ist nicht gekommen, um über mich zu triumphieren. Aber selbst im Traum entgeht mir die grausame Ironie nicht: Als ich das erste Mal in einem sterblichen Körper wiedergeboren wurd e – ausgestoßen, beraubt, verwirrt, zutiefst einsa m – werde ich zweifellos nach seinen Diensten gerufen haben, nach ihm, der mehr als ein Mensch ist.
Warum bist du hier? , sage ich in seinem Geist. Und warum jetzt? Du kommst Jahrtausende zu spät. Ich brauche deine Hilfe nicht. Früher vielleicht einmal, aber jetzt nicht mehr.
Die Jahre haben deinen Geist getrübt, antwortet er und in seiner Stimme schwingt Lachen mit. Ich bin nicht um deinetwillen hier, natürlich nicht. Er hebt eine schimmernde Hand und zeigt mit dem Finger auf das Bett. Aber vielleicht hole ich sie jetzt noch nicht.
Ich runzle die Stirn. Ich habe die Verwüstung in ihrem Körper gesehen, Azrael. Nur Angst und Liebe halten sie noch hier. Sie ist bereit. Mach ihrem Leiden ein Ende. Nimm sie.
Meine Worte sind vielleicht nicht ganz uneigennützig. Denn selbst im Traum weiß ich, dass ich frei sein werde, wenn Karen Neill gestorben ist. Dass ich Ryan folgen kann und Lelas altes Leben hinter mir lasse, ohne Schuldgefühle, ohne einen Blick zurück.
Azrael blickt mich durchdringend an, und ich weiß, dass er in mein Herz sieht. Später vielleicht, erwidert er. Aber ihr ist bestimmt, mit einer anderen zu gehe n – zur selben Stunde, Minute, ja, im selben Augenblick. Deshalb muss ich warten, um beide zu holen. Aber nicht mehr lange.
Plötzlich und übergangslos, wie es nur im Traum geschieht, blicke ich mit Lelas Augen zu ihm auf. Wie ein Dschinn, der in seine Flasche zurückgerufen wird, bin ich
Weitere Kostenlose Bücher