Mercy, Band 2: Erweckt
tausend Sonnen. Nur die böse kleine Stimme in meinem Hinterkopf stört mein Glück und mahnt mich unablässig, auf keinen Fall vom Plan abzuweichen.
Kapitel 12
Punkt 5.0 3 Uhr schließe ich Lelas Haustür in der Highfield Street auf. Es ist so still, dass ich das Schlimmste befürchte. Aber Georgia ist im vorderen Zimmer, packt ruhig ihre Ausrüstung zusammen und lächelt mich an.
„Bis morgen Früh, so Gott will“, sagt sie leise, als ich sie hinausbegleite.
Ich nicke.
In Mr s Neills Schlafzimmer brennt eine Lampe, und aus der Ecke kommt das vertraute Summen des Luftbefeuchters, der heute Abend den Geruch von Weihrauch und Jasminöl verbreitet. Lelas Mutter dreht sich zur Tür um, als ich hereinkomme. Ihr Blick hat fast etwas Leuchtendes, obwohl ihre Augen eingesunken sind und das Weiße darin noch gelblicher ist als heute Morgen.
Ich nehme Lelas Stuhl, um ihn näher ans Bett zu ziehen, und jetzt erst sehe ich, dass Mr s Neills ausgezehrtes Gesicht tränenüberströmt ist.
„Es tut mir so leid“, wispert sie und greift mit ihrer dünnen Hand hilflos in die Luft. „Ich weiß, dass ich dein ganzes Leben auf den Kopf gestellt habe, und du hast allen Grund, wütend auf mich zu sein, aber du warst so gut zu mir, Lel. Du hast nie deine Stimme erhoben, warst nie ungeduldig mit mir. Es ist einfach nicht recht, dass du deine Mutter so sehen muss t …“ Sie tippt auf etwas unter der Bettdecke, das an ihrem Körper befestigt ist. Das Geräusch ist hart und trocken, als ob ihr Finger auf Plastik trifft. „Ein Puzzle haben sie aus meinem Körper gemacht, Lel“, sagt sie halb lachend, halb schluchzend, und greift nach der Hand ihrer Tochter. Nach meiner Hand. „Aber jetzt passt nichts mehr zusammen.“
Die Frau erwartet etwas von mir. Ich spüre, nein, ich weiß es. Sie will, dass ich sie gehen lasse. Und dass ich ihr vergebe. Sie will das Versprechen, dass Lela ohne sie zurechtkommt. Das erkenne ich, auch ohne sie zu berühren. Zwischen Mutter und Tochter steht etwas noch Ungeklärtes, Ungesagtes.
Ich denke an die verletzenden Worte, die Lela zum Glück nur ihrem Tagebuch anvertraut hat, die niemals über ihre Lippen kamen. Und doch: Lela hat zwar nicht offen ihre Wut an Mr s Neill ausgelassen, aber vielleicht hat sie ihr verweigert, was ihre Mutter am meisten braucht e – das Gefühl, um ihrer selbst willen geliebt zu werden.
Mag sein, dass ich eine sentimentale Kuh bin, aber ich beuge mich vor, lege eine Hand auf ihren Arm und murmle: „Ich hab dich lieb, Mum, hab ich dir das schon mal gesagt? Du hast dich für mich aufgeopfert, du warst die beste Mutter, die ich mir nur wünschen konnte, und dafür danke ich dir.“
Lelas Mutter schließt die Augen und lächelt, obwohl noch immer Tränen unter ihren Wimpern hervorquellen und über ihre hohlen Wangen rinnen. Sie wischt ihre Tränen nicht weg, also tu ich es. Dann lege ich wieder meine Hand auf ihre Stirn, in der Hoffnung, dass diese Geste ihre Qualen lindert, wie es schon einmal der Fall war.
Die Anspannung, die immer da ist wie ein Knoten in ihrer Seele, weicht aus Mr s Neills Körper, sie verschwindet unter meiner Berührung. Nur habe ich plötzlich das Gefühl, dass meine Handfläche mit ihrer Haut verschmilzt, als läge ich selbst im Sterben, und auf einmal kann ich mich nicht mehr bewegen.
Etwas geschieht mit uns, als hätte ich eine direkte Verbindung zwischen meinem und ihrem Geist hergestellt. Als könnte sie meine Gedanken lesen, wenn sie nur wüsste, wi e – in meinen Erinnerungen wühlen, um etwas über mich zu erfahren, über mein wahres Ich, so wie der Malakh es versucht hat.
Aber nein, das wäre zu einfach.
Irgendwie habe ich eine Schwelle überschritten und kann jetzt nicht nur im Kopf der Frau lesen, sondern ich blicke in ihren Körper. Oder nein, in gewisser Weise bin ich selbst dieser Körper. Als hätte ich eine Tür zu den Innenwelten der Mr s Neill geöffnet. Ihre Sinne sind meine: Ich nehme das Pulsieren der Morphinpumpe wahr, spüre, wie das Mittel in ihren Blutkreislauf sickert, leide unter dem dumpfen, nie nachlassenden Schmerz an ihrem künstlichen Darmausgang, dem Beutel, der daran befestigt ist. Der überhitzte Raum, die Außenwelt sind verschwunden. Ich kann sie lesen wie eine Landkarte: die Schnellstraßen ihrer Knochen, die Kanäle ihres Lymph- und Herz-Kreislauf-Systems, das Bindegewebe, die Muskeln und Nerven. Alles ist da und liegt vor meinen Augen ausgebreitet.
Am meisten berührt mich die tiefe Liebe zu ihrer
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