Mercy, Band 2: Erweckt
rumgeknutscht, als plötzlich so ein seltsamer Schimmer über dem Wasser lag, und im nächsten Moment hat sie einen riesigen Mann gesehen, über zwei Meter groß und ganz in Weiß, der eine Weile einfach über dem Wasser geschwebt ist, bis er sich schließlich in Luft aufgelöst hat.
Mir läuft es kalt über den Rücken.
Atemlos tippe ich ein: Wo? Wo finde ich das?
Eine Sekunde später schickt Ryan mir eine URL auf die Chatseite. Das haben jetzt schon über eine Million Internet-User gesehen, schreibt er , obwohl es erst ein paar Tage her ist. Kennst du den Typ vielleicht?
Ich öffne ein anderes Fenster und kopiere die Internet-Adresse in den Balken am oberen Bildschirmrand. Das Video dauert nur eine Minute und sechsundvierzig Sekunden, aber das dürfte ausreichen, um selbst den größten Skeptiker davon zu überzeugen, dass es mehr zwischen Himmel und Erde gibt, als man mit bloßem Auge wahrnehmen kann.
Der Mann, der über den See gleitet, ist groß, bleich, breitschultrig, eine Gestalt wie aus einem alten Gemälde. Er hat braune Augen, glattes, gerades braunes Haar, etwas zu lang für die heutige Mode, jedes Härchen an seinem Platz. Das Gesicht ist kantig, die Nase gerade, der Mund streng. Sein weißes Gewand ist so hell, so leuchtend, dass die Umrisse vor den Augen verschwimmen. Wie eine lebende Statue sieht er aus, ein Wesen aus reinem Feuer; von jugendlicher Gestalt und dennoch alterslos. In der Hand hält der Mann eine Flamme, ein lebendiges Licht, mit dem er ins Wasser leuchtet. Er sucht etwa s – oder jemanden.
Die Kamera wackelt verständlicherweise, aber ich weiß sofort, wer hier zu sehen ist. Uriel, der mir gleicht wie ein Zwillin g – im Aussehen, nicht vom Charakter her. Als ich ihm das letzte Mal Auge in Auge gegenüberstand, war ich Carmen, und er weigerte sich, mir bei der Suche nach Lauren zu helfen, oder mich zu befreien. Dafür wird er sich eines Tages noch verantworten müssen.
Ich sehe mir das Video ein zweites Mal an, um ganz sicherzugehen, dann wechsle ich ins andere Fenster zurück, in das Portal, hinter dem Ryan geduldig wartet.
Ich weiß nicht, was ich schreiben soll, zögernd schweben meine Finger über den Tasten.
Schließlich fragt Ryan: Mercy? Hast du’s gesehen?
Das bringt mich auf Trab und ich antworte:
Ja, und ich kenne ihn tatsächlich. Aber was er da macht, kann ich dir auch nicht sagen.
Diesmal bleibt Ryan stumm, so lange, dass ich mich schon frage, ob er aus dem Chatroom rausgegangen oder eingeschlafen is t – oder einfach nur genug von mir hat.
Endlich schreibt er: Muss ich mich jetzt fürchten?
Diesmal tippe ich schnell: Vor mir?
Er schreibt: Ja .
Nur ein Wort. Wie soll ich das verstehen?
Ich tippe: Nein, vor mir doch nicht. Ich könnte dir kein Härchen krümmen.
Dann denke ich an Lucs Plan und schließe kurz die Augen, bevor ich hinzufüge: Aber bei den Leuten, mit denen ich früher zusammen war, läuft irgendeine krumme Tour, und es kann sein, dass du Dinge zu sehen bekommst, die deine Haare über Nacht grau werden lassen. Was du auf dem Video gesehen hast, ist nur ein kleiner Vorgeschmack. Du hast ja keine Ahnung, wozu diese Typen fähig sind. Im Moment spielt sich so eine Art Tauziehen unter ihnen ab, und ich bin, fürchte ich, das Tau. Willst du mich jetzt immer noch zu dir holen? Du kannst jederzeit Nein sagen.
Bitte, denke ich. Bitte hol mich trotzdem ab! Ich bin beinahe gelähmt vor Angst. Ich, die ich immer die Furchtlose spiele!
Endlich antwortet er. Natürlich will ich dich noch, was für eine Frage! Wir beide haben noch viel zusammen vor. Mein Flieger trifft Freitagmorgen ein. Ich komme direkt ins Green Lantern, sobald ich durch den Zoll bin. Pack alles ein, was du brauchst, denn wir reisen ab, sobald du kannst. Und bis dahin pass auf dich auf. Das meine ich ernst, Mercy. Sei vorsichtig.
Ich schließe das Fenster, verlasse das Internet-Café, gehe langsam hügelaufwärts durch Chinatown. Die schwüle Hitze drückt mich jetzt nieder. Keine Rede mehr davon, dass ich die warme Sonne genieße.
Das Video, das Ryan mir gezeigt hat, läuft unablässig vor meinem inneren Auge ab. Es ist ein weiterer Beweis dafür, dass die beiden Welte n – die sichtbare und die unsichtbar e – ineinander übergehen. Und ich, die Heimatlose, die keiner der beiden Welten angehört, bin dazu verdammt, tatenlos in den Kulissen zu stehen und zuzusehen.
Auf der ganzen Heimfahrt starre ich aus dem Busfenster, sehe aber immer nur Uriel vor mir, der auf dem Wasser
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