Mercy, Band 2: Erweckt

derselben Zeit aufhalten können und uns auf einer geistigen Ebene berühren, auch wenn der Moment noch so flüchtig ist. Das hier ist wirklich ein Zeitalter der Wunder.
    Und plötzlich wird mir bewusst, dass ich ja wirklich und wahrhaftig Lucs Plan in Gang setze. Die Operation „Holt mich hier raus“ beginnt JETZT! Bei diesem Gedanken durchzuckt mich ein Glücksgefühl, so heiß wie die Sonne auf Lelas Kopf.
    Hinter dem Panzerglas im Magi c 888 Internet Café sitzt wieder derselbe Typ wie gestern. Von Kaffee ist hier allerdings keine Spur, hier gibt es nur Computer. Egal, deswegen bin ich schließlich gekommen. Ich schiebe also meinen Fünfer über die Theke und er gibt mir einen Chip. Er verrät mit keiner Miene, ob er mich wiedererkennt.
    Vor einem der Bildschirme grölen drei Jungen in dunkelgrünen Schuluniformen herum, und ich gehe zu einem Computer, der möglichst weit von ihnen entfernt steht. Ich will auch nicht in der Nähe der etwa sechzigjährigen Chinesin mit der steifen Dauerwellenfrisur und dem kastanienbraunen kurzärmligen Hosenanzug sitzen, die ein Hongkonger Lifestyle-Programm live auf ihrem Bildschirm verfolgt und etwas in einer Zeichenschrift notiert, die ich nicht lesen kann.
    Am Computer logge ich mich schnell ein und klicke meinen Chatroom an.
    Hallo, Schöne , tippt Ryan, als hätte er nur auf mich gewartet, und auf Lelas kleinem Gesicht breitet sich ein strahlendes Lächeln aus, ohne dass ich etwas dagegen tun könnte.
    Ich schreibe: Wenn doch nur schon Freitag wäre! Du kannst bei mir zu Hause wohnen, falls wir nicht sofort wegkönnen, aber keine Hintergedanken, okay?
    Ein einziges Zeichen kommt zurück: ;
    Ich rätsle eine Weile herum, und als der Groschen endlich fällt, strahle ich schon wieder übers ganze Gesicht.
    Wissen deine Eltern über mich Bescheid?, frage ich.
    Ryan antwortet: Nein. Du musst so tun, als hätten wir uns noch nie gesehen. Aber sie wissen, dass ich mit einer Australierin chatte, die ich für ein paar Wochen zu mir nach Hause eingeladen habe. Natürlich machen sie sich Gedanken, aber sie sind heilfroh, dass ich mich wieder für Mädchen interessiere, anstatt irgendwelchen Mist zu bauen und mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen.
    Ich strahle noch mehr.
    Wie viele Leute wissen von mi r – meinem wahren Ich? , schreibe ich.
    Hoffentlich bleibe ich unerkannt. Je weniger die Leute in Paradise von mir wissen, desto besser. Besonders wenn Luc uns irgendwie von dort weghexen will. Bis Luc kommt, muss ich mich bedeckt halten. Mir ist nicht wohl dabei, Ryans Zuhause als Versteck zu missbrauchen, aber was soll ich machen? Ich weiß, es ist feige, und ich darf mir gar nicht vorstellen, wie ich Ryan das alles im Einzelnen erklären soll. Ich werde einfach nur im Augenblick leben und hoffen, dass er nicht allzu sehr verletzt ist, wenn Luc auf der Bildfläche erscheint.
    Heute zählt nur der Silberstreifen am Horizont, die Wolken übersehe ich.
    Ryans Antwort fällt wie erhofft aus: Dein Geheimnis ist sicher. Nur ich, Lauren und Jennifer Appleton wissen davon. Sonst niemand.
    Ich lehne mich erleichtert zurück: Das sind alles Menschen, denen ich vertrauen kann. Dass ich irgendwie nicht von dieser Welt bin, wissen sie ja schon, und wenn ihnen etwas merkwürdig vorkommt, werden sie es darauf schieben.
    Aber im nächsten Moment fügt Ryan hinzu: Oh, Shit, Laurens Therapeutin! Jennifer wollte keine Therapie, aber bei Lauren ist es ander s – sie muss reden und reden, kann manchmal gar nicht mehr damit aufhören, nachdem sie zwei Jahre lang mit keinem normalen menschlichen Wesen sprechen konnte. Deshalb geht sie zu ihrer Therapeutin, Dr . Ritu Sandeep, wenn es zu finster in ihrem Kopf wird. Aber Dr . Sandeep ist cool. Ende zwanzig, wohnt in der Stadt, meilenweit weg von hier. Außerdem ist sie an ihre Schweigepflicht gebunden. Das hat sie uns selber gesagt. Aber wenn Lauren nächstes Mal hingeht, soll sie ihr noch mal klarmachen, dass nichts von allem, was sie ihr erzählt, nach außen dringen darf.
    Bevor ich antworten kann, fügt Ryan hinzu: Ich weiß nicht, ob du das hier schon gelesen has t – es war überall in den Schlagzeilen, nicht nur bei uns. Aber falls nicht, schau dir mal den YouTube-Bericht über diesen Typ an, der auf dem Wasser wandelt. Ist kein Witz, echt. Er hat mich sofort an dich erinner t – an Laurens Beschreibung von dir. Das Mädchen, das dieses Video reingestellt hat, war mit seinem Freund an einem schottischen See und hat dort im Auto mit ihm