Mercy, Band 2: Erweckt
wandelt, ehe er in einem schwarzen Loch von Zeit und Raum verschwindet. Wonach hat er gesucht?
Mr s Neill ist glücklich, dass ich wieder da bin, ihre Augen leuchten vor Liebe und Erleichterung, sobald sie das Gesicht ihrer Tochter sieht. Aber heute ist sie spürbar schwächer. Ich ziehe den Sessel an ihr Bett und kann beinahe den feinen Silberdunst sehen, der im Zimmer aufsteigt, und Azraels Gestalt, die am Fenster neben den schweren Vorhängen wartet.
Ich schlafe nie besonders gut, aber in dieser Nacht kann ich kein Auge zutun. Ich halte Wache, düster und tränenlos, wache über der sterblichen Hülle von Lelas Mutter, aus der langsam das Leben entweicht.
Kapitel 15
Mr s Neill schläft noch, als ich aufstehe, um den Bus um 7.0 8 Uhr zur Arbeit zu erwischen. Ich wecke sie nicht, denn Georgia muss jeden Moment kommen. Ich werde M r Dimowski bitten, mir noch mal einen halben Tag freizugeben, damit ich bei ihr sein kann. Er wird es schon erlauben, denke ich, denn unter seiner rauen Schale steckt ein weicher Kern, weich wie ein Marshmallow. Allerdings wird er am Freitag einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn ich kündige. Aber er ist Russe. Wenn sein Zorn erst verraucht ist und wenn er Ryan und mich zusammen sieht, wird er alles verstehen.
Auf der Fahrt zur Arbeit nehme ich den Himmel in mich auf, das klare, harte Licht, die Grenzenlosigkeit. Das werde ich vermissen. In Paradise, bei Ryan, gibt es diesen Himmel nicht, so komisch das auch klingen mag. Paradiesisch ist dort gar nichts: verschmutzte Strände, ringsum nur Erdölraffinerien und militärisches Sperrgebiet, Stacheldraht. Alles grau vom Ufer bis an den fernen Horizont.
Als ich ins Green Lantern komme, ist Reggie wieder da, und schon am frühen Morge n – es ist gerade 7.3 8 Uh r – gereizt wie ein Puma.
Sobald ich über die Schwelle trete, hält sie die Hand hoch, als wollte sie den Verkehr draußen regeln, und faucht mich an: „Ich will nicht drüber reden, okay?“
„Ist gut. Ich wollte auch gar nichts wissen“, sage ich milde.
„Mach, dass du an die Arbeit kommst.“ Mit einem bösen Blick wirft sie den Kopf herum und wendet sich wieder den Gästen zu, die bereits für das Frühstücks-Special anstehen: ein Dollar Aufpreis für die doppelte Menge Kaffee.
Cecilia hebt ihre Augenbrauen zur Begrüßung und M r Dimowski lächelt mich durch die Durchreiche an, er bespricht mit Sulaiman in der Küche das Tagesmenü. Sulaiman nickt leicht mit dem Kopf und ich lächle beinahe. Für seine Verhältnisse ist das geradezu herzlich.
Ich ziehe eine saubere schwarze Schürze über meine schwarzen Kleider und beginne ungeschickt mit dem Sandwichgrill, dem Sandwichschneider und dem langen Brotmesser zu hantieren, während Sulaiman Tabletts mit Spiegeleiern und gebratenen Speckstreifen herausbringt, schneller als ich die Brotscheiben belegen kann.
Kaum finden wir einen Augenblick Zeit zum Aufatmen, taucht Ranald im Café auf, als hätte er persönlich die Flaute mitgebracht. Reggie geht wieder mal zu einer „Ziggie-Pause“ raus.
Ranald kommt an die Theke, hinter der ich stehe, und sagt mürrisch: „Ich hab das gestern nicht so gemeint. Dass du dumm bist. Du bist nicht dumm. Ich hätte dich nicht zum Essen eingeladen, wenn ich so über dich denken würde. Bleibt es bei Freitag?“
Er kann mir nicht in die Augen sehen, starrt auf eine Stelle direkt neben mir und verhaspelt sich, während er seine Entschuldigung murmelt. Es tut ihm nicht wirklich leid, aber da ich nicht die Absicht habe, mein Versprechen zu halten, sind wir quitt.
„Ja, klar“, sage ich. „Das ist gebongt.“
„Und du hast wirklich nichts anderes vor?“, fragt er knapp.
Ich schüttle den Kopf und werfe ihm einen neugierigen Blick zu. In seinen Zügen liegt etwas Hartes, Verbissenes, was ich nicht einordnen kann.
Er steht eine Weile unschlüssig vor mir. Eine Sekunde lang befürchte ich, dass er mich gleich wieder anschnauzt. Dann wendet er sich ab, geht zu seinem Stammplatz und knallt die Computertasche auf den Tisch. Er packt seine Ausrüstung viel lauter aus als sonst und stürzt sich in die Arbeit, ohne uns eines Blickes zu würdigen. Irgendwas schlägt ihm auf den Magen. Termindruck vielleicht?
Cecilia bringt ihm den ersten Kaffee, und als sie zurückkommt, schaut sie mich kopfschüttelnd an, als wollte sie sagen: „Lass dich ja nicht mit dem da ein.“
Keine Angst , denke ich. Das hatte ich auch nicht vor .
Ich blicke aus dem Fenster. Draußen geht gerade ein Typ mit
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