Mercy, Band 4: Befreit
packt Uriel Ryan an der Jacke und zieht ihn zu sich. Ryan stockt der Atem, als Uriel ihn mit seinem flammenden Blick durchbohrt, aber er lässt sich nicht einschüchtern. „Ihr Acht und Mercy seid die Einzigen, die Luc in Schach halten können“, beharrt er tapfer. „Und Mercy kann euch eine große Hilfe sein. Sie hat schon ein paar von ihnen erledigt – von Lucs Höllenmonstern, meine ich.“
Uriel schaut kurz zu mir herüber, ohne Ryan loszulassen. „Wie viele? Und welchen Ranges?“, bellt er mich an.
„Ananel, Remiel, Nekael und Turael“, zähle ich auf, und seine Augen weiten sich vor Staunen. „Alle aus dem obersten Rang. Alle einst Elohim, wie du weißt. Ich bin eine Killerin, ein Naturtalent im Töten.“ Meine Stimme verhallt.
Uriel wendet sich wieder Ryan zu und Ryan sagt leise: „Und ich kann dir auch nützlich sein. Ich meine, schau dich doch mal an! So wie du aussiehst, kommst du hier nicht weit. Du brauchst meine Hilfe, wenn du einigermaßen echt rüberkommen willst.“
Uriel blickt stirnrunzelnd an sich herunter, dann zu mir, und ich weiß sofort, was Ryan meint: Ryan ist von oben bis unten klatschnass, als hätten wir ihn gerade aus dem Pazifik gefischt. Uriel und ich dagegen sind staubtrocken, weil der Regen verdampft, ehe er auf unser Haar, unsere Haut, unsere gefälschte menschliche Kleidung trifft.
Uriel lässt Ryans Jacke plötzlich los und Ryan wippt erleichtert auf seinen Absätzen zurück.
Und da höre ich die Kinder.
Singend treten sie aus dem Torbogen bei der Kirche und kommen zielstrebig auf Uriel zu: „Ayar Awqa! Ayar Awqa!“
Es sind sechs – vier Mädchen und zwei Jungen – und sie tragen bunte Mäntel, Jacken und Strickmützen. Ihre farbenprächtigen Röcke und Hosen sind mit Blüten, Blättern und Tieren bestickt. Sie umringen Uriel und er blickt auf sie hinunter, als erwachte er aus einem Traum. Und er lächelt. Ein Lächeln, so strahlend, so schön, dass die Kinder beglückt zurücklächeln.
Dann führen sie ihn zu dem Torbogen zurück, aus dem sie gekommen sind, und aus dem Regen heraus. Dabei halten sie ihn am Saum seines dunkelblauen Pullovers mit dem stylishen Logo, der so absurd an ihm aussieht. Uriel geht wortlos mit.
Ryan und ich schauen uns ernst an. Ryan holt den Rucksack, der ihm bei der unsanften Landung von der Schulter gerissen wurde, und wirft ihn sich über den Rücken. Ich hake mich bei ihm unter, dann drehen wir uns um und folgen den Kindern.
„Was singen sie da eigentlich?“, fragt Ryan mit gesenkter Stimme, als wir zu dem Torbogen kommen, unter dem die Kinder sich um Uriel scharen und immer noch „Ayar Awqa! Ayar Awqa!“ singen.
„Das ist ein Name“, sagt Uriel, der sich einen Augenblick von den ehrfürchtigen Gesichtern der Kinder abwendet. „Ayar Awqa ist eine geflügelte Männergestalt, die vom Himmel gefallen ist und sich in einen Stein verwandelt hat, den Grundstein, auf dem der Ort hier erbaut wurde – Qosqo, Cusco .“
Das älteste Kind, ein höchstens siebenjähriges Mädchen, hebt einen kleinen Korb auf, der mit winzigen gestrickten Fingerpuppen gefüllt ist. Sie nimmt Uriel an die Hand und bedeutet ihm, dass er mitkommen solle. Die anderen Kinder drängen sich schüchtern um Ryan und mich, nehmen uns an den Händen, zupfen an unseren Jackensäumen und nennen mich „Schwester von Ayar Awqa“ und Ryan „Maki Sapa“.
Der Name bringt mich zum Lachen und Ryan will wissen, was daran so komisch ist.
Ich werfe den dunkelhäutigen Kindern mit den großen leuchtenden Augen einen verschwörerischen Blick zu und sage mit unbewegter Miene: „Ach, nichts weiter. Sie nennen dich Affenmann. Vielleicht brauchst du mal einen Kamm oder so.“
Ryan starrt mich verblüfft an, dann zieht er eine Grimasse und lässt die Arme baumeln. Die Kinder stürzen davon und Ryan jagt hinter ihnen her und brüllt wie ein Affe.
Uriel, das älteste Mädchen und ich schauen lächelnd zu. Aber dann klatscht die Kleine in die Hände und wir gehen alle in den Regen hinaus.
Es gießt, als hätte der Himmel alle Schleusen geöffnet. Die Kinder zerren uns durch die verlassenen Straßen, zeigen uns alles, was Touristen ihrer Meinung nach sehen wollen – besondere Steine und gute Restaurants. Wir kommen an regennassen Plätzen und weniger belebten Stadtvierteln vorbei, an glänzenden Steinkirchen und an den winzigen, chaotischen Werkstätten der einheimischen Handwerker. Die Gegend wird immer ärmlicher, die Straßen enger und überfüllter.
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