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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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loslassen. Du darfst dich nicht länger gegen die bestehenden Bedingungen auflehnen. Das ist ein Weg, der in den Wahnsinn führt.“
    Damit wendet er sich ab und fliegt davon. Er hält Ryan so sanft und behutsam im Arm wie ein kleines Kind. Und vielleicht bin ich dem Mysterium, das den Herzen der Acht innewohnt, noch nie so nahe gekommen wie jetzt, in diesem Moment, und ich schäme mich, dass ich ihnen noch zusätzlich Kummer und Sorgen bereitet habe. Meine Liebe erscheint mir klein und nichtig im Vergleich zu ihrer, und dennoch ist sie jetzt der Mittelpunkt meiner Welt, das Zentrum von allem, was ich bin.
    Und das ist das Paradoxe: Ich weiß, was richtig ist, aber es würde mich umbringen, danach zu handeln.
    Die Sonne steht hoch über uns, als wir den Äquator überqueren und Uriel uns langsam hinunterführt. Dunkle Wolken sammeln sich um uns. Wir fliegen über das Meer zum Festland und er ruft: „Die Nasca-Linien liegen direkt unter uns, der Llaima-Vulkan im Süden. Sieh nur, was Luc in meiner Abwesenheit angerichtet hat, in wenigen Tagen!“
    Die Küstenlinie, die wir überfliegen, ist in grauen Nebel gehüllt. Wir sind von Dunkelheit umgeben, überall spucken Vulkane Asche, Schlacke und Lava.
    „Manche Vulkane waren jahrhundertelang erloschen“, erklärt er. „Aber jetzt erweckt Luc den Pazifischen Feuerring zum Leben, von hier bis zu den japanischen Inseln. Und das ist erst der Anfang.“
    Wir schwenken an der Küstenlinie nach Norden ab, und jetzt fällt Regen, der sich zu peitschenden Sturmböen und heftigen tropischen Regengüssen steigert, die alles Licht auslöschen. Uriel beschirmt Ryan so gut wie möglich vor dem Sturm, der uns beiden nichts anhaben kann. Am Himmel zucken Blitze auf, erleuchten kurz unseren Weg zu einer großen Stadt, die von gewaltigen Bergen umringt ist. Niedrige weiß gekalkte Häuser mit roten Dächern säumen einen weiten Platz, der in einem helleren Grau schimmert als der Rest der Stadt. Zwei hohe barocke Steinkirchen mit je zwei großen Glockentürmen stehen darauf sowie mehrere anmutige steinerne Arkaden, die von Torbögen unterbrochen sind.
    In rasendem Tempo schießen wir auf den Platz hinunter, und Uriel sagt in meinem Kopf: Die Plaza de Armas – der Platz der Krieger. Hier trennen sich unsere Wege, und das ist kein Zufall, denn du warst tapferer und wahrhaftiger, als dir selbst bewusst ist.
    Der Tag ist fast zur Nacht geworden, und wir jagen durch das unnatürliche Dämmerlicht, durch heulende Winde und peitschenden Regen auf einen grünen Rasenfleck im Schatten einer der beiden großen Kirchen zu. Ungefähr hundert Meter über dem Boden murmelt Uriel ein einziges Wort in Ryans geschlossene Augen: Erwache! Ich halte mich die ganze Zeit über und hinter Uriel, verberge mich hinter seiner riesigen Gestalt, und nur ich allein beobachte, wie Ryan die Augen aufschlägt. Uriels Blick ist auf die Erde gerichtet, auf den Rasenfleck, auf den er zusteuert, und nicht auf den Sterblichen, den er im Arm hält.
    In Ryans Gesicht spiegeln sich widerstreitende Gefühle. Und dann macht er etwas so unglaublich Tapferes und Verrücktes, dass mir der Atem stockt: Er schließt die Augen, bewegt stumm die Lippen wie im Gebet, wie um Lebewohl zu sagen, dann lässt er sich rücklings aus Uriels Armen fallen.
    Wie ein Stein fällt er vom Himmel und ist im Nu vom Regen durchnässt, sodass sein schwerer sterblicher Körper noch schwerer wird. Er hält die Augen geschlossen und sieht so anmutig aus wie ein Tiefseetaucher. Kein Zeichen von Gegenwehr, kein Schrei. Ryan will tot sein, weil er mich tot glaubt. Denn er hat gesehen, wie ich in Tokio von den Dämonen überwältigt wurde, und dann ist er in den Armen eines Feuerwesens erwacht, das mir fast aufs Haar gleicht, das aber nicht ich bin und deshalb nur das leibhaftige Böse sein kann, ein Dämon, der meine Gestalt angenommen hat.
    Ich zögere keine Sekunde und stürze hinunter, um Ryan abzufangen, bevor er auf den gepflasterten Wegen der Plaza de Armas aufschlägt.
    Ausnahmsweise bin ich schneller als Uriel und bekomme Ryans Hände als Erste zu fassen. Wir prallen mit solcher Wucht aufeinander, dass es mir beinahe die Arme ausreißt. Ryan schlägt die Augen auf, als ich mit aller Kraft seine Hand umklammere. Und so fallen wir Hand in Hand und die Schwerkraft der Erde zieht uns immer schneller nach unten.
    Der Boden rast unaufhaltsam auf uns zu, und ich schütze Ryan mit meinem Körper, dämpfe mit jeder Faser meines Wesens seinen Aufprall. Eng

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