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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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Schließlich gelangen wir zu einem zweistöckigen Ladengebäude. Die Körbe mit den einheimischen Waren wurden unter die tropfenden Markisen geschoben, um sie vor dem Regen zu schützen.
    Im Laden ist niemand. Es riecht nach Gewürzen, Tabak und Wolle, nach Seife und Räucherstäbchen, menschlichen Ausdünstungen und Erde. Die Kinder führen uns eine schmale Treppe an der Rückseite des Ladens hinauf, zu einer Wohnung, deren Tür weit aufsteht. Ryan keucht heftig, sein Gesicht ist schweißüberströmt. Wir sind so viele, dass es in der winzigen Wohnung unerträglich eng und stickig wird.
    Ryan sackt plötzlich vornüber und lässt den Rucksack auf den Boden fallen. Zusammengekrümmt und schlotternd steht er da, lässt den Kopf hängen und stützt die Ellbogen auf die Knie. Ich lege ihm beruhigend die Hand auf den Rücken, aber er reagiert nicht, ringt nur nach Luft. Ich mache mir große Sorgen um ihn.
    Zwei ältere Frauen sitzen auf einem niedrigen durchgesessenen Velourssofa neben einem Radio, aus dem lautes Geplapper in Spanisch ertönt, und mustern uns neugierig. Beide tragen farbenprächtige, bestickte Röcke und kurze Wolljacken wie die kleinen Mädchen. Ihre Haut ist dunkel und glänzend wie Mahagoni und ihr bereits ergrautes Haar ist zu dicken, langen Zöpfen geflochten. Unermüdlich stricken sie an ihren bunt gemusterten Wollsachen weiter, mit fliegenden Fingern, obwohl ihre schwarzen Augen die ganze Zeit unverwandt auf uns geheftet sind.
    Auf der anderen Seite des Raums sitzen zwei Männer an einem Holztisch, auf dem zwei kleine Gläser mit einer trüben grünen Flüssigkeit stehen, und spielen Karten. Sie sehen sich sehr ähnlich, nur dass der eine erheblich älter ist und schon graue Haare hat. Vater und Sohn, nehme ich an.
    Dann erscheint kurz eine Frau – vielleicht die des jüngeren Mannes – in der Türschwelle zu einem anderen Raum, der wohl die Küche sein muss. Ihre Augen weiten sich erschrocken und sie dreht sich abrupt um und verschwindet, sodass ihr langer, goldgesäumter roter Rock hinter ihr herweht.
    Niemand spricht ein Wort, bis Uriel leise und höflich in Quechua sagt: „Danke für Ihre Gastfreundschaft. Wir fühlen uns sehr geehrt.“
    Dann plappern die Kinder plötzlich drauflos und ihre hohen, klaren Stimmen überschlagen sich fast vor Aufregung.
    „Sie sind vom Himmel gefallen!“
    „Direkt auf die Plaza de Armas!“
    „Wie Ayar Awqa.“
    Der jüngere Mann zeigt schnaubend auf Ryan, der immer noch nach Luft ringt. „Und dieser Gringo hier? Ist der auch wie Awqa? Er kann ja kaum stehen, geschweige denn fliegen. Er hat soroche , die Krankheit, die alle Gringos bekommen. Seht ihn euch doch an!“
    Er blickt sich nach dem ältesten Mädchen um und winkt es zu sich heran. „Flor“, sagt er streng, „wir haben dich nicht zum Lügen erzogen. Und du weißt, dass du keine Gringos  …“ – er spuckt uns das Wort praktisch vor die Füße – „nach Hause mitbringen sollst. Wir sind keine Zirkustiere oder Ausstellungsstücke. Wie wir hier leben, geht sie überhaupt nichts an.“
    „Aber Papi“, sagt das Mädchen leise, „wir lügen doch nicht.“
    Die Kleine nimmt seine Hand. Widerstrebend steht ihr Vater auf und lässt sich von ihr zu Uriel hinüberziehen.
    „Schau mal den Mann und die Frau hier an, nicht den Gringo“, sagt sie. „Und dann uns – Luis, César, Ana, Gabriela, María und mich.“
    Das Mädchen nimmt Uriel die Mütze ab und wringt das Regenwasser aus, sodass es auf den Boden tropft.
    Der Familienvater, ein stämmiger, braunhäutiger, glatt rasierter Mann mit streng zurückgeölten schwarzen Haaren, kommt auf uns zu. Er studiert Uriel, der in seinem Designer-Outfit dasteht, ohne Mütze, Schirm oder Gepäck. Der Mann blickt ihm prüfend ins Gesicht, streckt die Hand aus und berührt seine Wange, zuckt aber schnell zurück. Er sieht mich nicht an und seine Körpersprache, seine Gedanken sind jetzt nicht mehr feindselig und abweisend, sondern nur noch verwirrt.
    „Das muss ein Trick sein“, murmelt er und dreht sich zu dem älteren Mann am Tisch um.
    „Das ist kein Trick“, erwidert der Ältere. „Wenn die Kinder sagen, dass er Ayar Awqa ist und die junge Frau hier die Schwester von Ayar Awqa, dann wird es so sein. Wie komme ich dazu, es abzustreiten? Unsere Kinder lügen nicht. Aber der hier ist eindeutig ein Gringo, und wenn wir ihm nicht schnell einen Koka-Tee einflößen, fällt er tot um, bevor er den Dead- Gringo-Pass bestiegen hat.“ Lachend wirft

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