Mercy, Band 4: Befreit
nur noch eine Chance, Jetrel zu überwältigen.
Der Nebel verbirgt vor Jetrels Augen, was als Nächstes geschieht: Ich halte ein Gewehr in jeder Hand – die Waffen sind da, weil ich sie brauche. Ich hebe sie zitternd hoch, richte sie auf Jetrels Gesicht. Ich bete, dass er die blaue Flamme nicht sieht, die über den Lauf der beiden Gewehre züngelt.
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun“, sagt Jetrel da. Er lächelt höhnisch und zeigt mir seine spitzen Raubtierzähne.
Ich blicke hinter mich und sehe eine zweite geflügelte Riesengestalt über mir aufragen, ein wildes Flackern in den weit auseinanderstehenden grauen Augen. Es ist ein männlicher Dämon wie Jetrel, aber mit seinen ausgeprägten Wangenknochen, dem unbehaarten Gesicht und dem blanken Schädel, den spitzen Fängen, dem muskelstrotzenden nackten Oberkörper und der flammenden Bauchwunde sieht er noch furchterregender aus als sein Gefährte. Es muss Schamschiel sein, denn von Uriel weiß ich, dass Schamschiel und Jetrel sich zusammengetan haben, aber er ist so verändert, dass ich ihn nicht wiedererkenne.
Ich richte eine Waffe auf Jetrel, eine zweite auf Schamschiel, und sie lachen mir ins Gesicht.
Dann wechseln sie einen Blick miteinander, als wäre ich gar nicht da.
„In diesen Bergen sind nur Menschen und Kondore“, faucht Schamschiel. „Wie lange sollen wir noch warten? Unsere Leute werden allmählich unruhig.“ In höhnischem Ton fügt er hinzu: „Und der große Gabriel lässt sich auch kaum noch bändigen.“
„Aber er ist gefesselt.“
„Im Augenblick schon. Semjasa und Astaroth, Balam, Jomjael, Beleth und Cam halten ihn im Mausoleum fest. Aber auch ihre Kräfte schwinden. Wir sind zu weit weg von zu Hause.“ Schamschiel greift plötzlich hinter sich und zieht jemanden nach vorne. „Den hier haben sie im Nebel aufgegriffen, also haben sie ihn mir gegeben. Willst du ihn? Oder soll ich ihn ihr geben?“
Es ist Ryan, der mich mit aschfahlem Gesicht anstarrt.
Ich mache eine Bewegung auf ihn zu und Jetrels Augen verengen sich. Meine Reaktion ist ihm nicht entgangen.
„Warum? Kennen sie sich?“, fragt er.
„Ich habe ihr Gesicht in seinem Geist gesehen. Er ‚liebt‘ sie. Könnte es nicht ertragen, sie zu verlieren.“ Schamschiel gluckst vor Vergnügen.
Jetrel lächelt. „Dann lass uns mal sehen, ob seine Gefühle erwidert werden. Du, Mädchen“, knurrt er und starrt grinsend auf den Gewehrlauf, der auf ihn gerichtet ist. „Erschieß ihn. Dann lassen wir dich leben.“
Er hält mich also immer noch für ein Menschenmädchen! Und natürlich denken sie, dass sie von mir und meinen Waffen nichts zu befürchten haben.
„Erschieß ihn!“, wiederholt Jetrel langsam und laut, als besäße ich nicht mehr Verstand als ein dressierter Hund. „Oder wir nehmen dir deine lächerlichen Menschenwaffen ab und hetzen euch aufeinander.“ Lachend wendet er sich an Schamschiel. „Bei ihrer Art ist das Weibchen die Gefährlichere, hab ich gehört. Mal sehen, was dran ist. Die hier sieht ganz danach aus.“
Schamschiel stößt Ryan in meine Richtung.
„Erschieß ihn!“, bellt Jetrel von hinten. „Morde!“
Ich wende den Kopf und schaue in seine glänzenden Augen, auf das hässliche, leuchtende Mal, das sich über seinen Kiefer, seine Lippen, seine ganze linke Gesichtshälfte zieht.
„Fiat voluntas tua“ , murmle ich. Dein Wille geschehe.
Dann feuere ich das Gewehr ab, das noch immer auf Jetrels Kopf gerichtet ist.
Jetrels Augen weiten sich bei meinen Worten, bevor die Kugel ihn zwischen den Augen trifft. Er stirbt, und die Wucht, mit der er zerbirst, schleudert mich zu Boden, jagt eine Hitze- und Lichtwelle in die Luft und lässt den Nebel erstrahlen wie einen Atompilz.
Mach, dass Uriel es sieht! , flehe ich in Gedanken. Lass ihn gewarnt sein!
Als ich die Augen wieder aufschlage, steht Ryan über mir, einen sonderbaren Ausdruck in den Augen.
Ich stütze mich auf die Ellbogen und sage flehentlich: „Ich hätte es nie getan, glaub mir! Ich hätte dich nie erschossen.“
„Dazu wirst du jetzt auch keine Gelegenheit mehr haben“, sagt Ryan mit einer seltsam hallenden Stimme. „Weil ich dich nämlich zuerst töte.“
Zwei Flammenschwerter erscheinen in seinen Händen, wie eine Verlängerung seiner Finger, und ich weiche entsetzt vor ihm zurück, krieche rücklings über den Boden. Ich kann ihn nicht erschießen, weil es doch Ryan ist. Ohne jeden Zweifel. Ich spüre seine besondere menschliche Energie, die ich
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