Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
Vom Netzwerk:
meinem Bruder, was Nuriel angetan wurde. Schildere ihm die teuflischen Qualen, die Jehudiel und Selaphiel erleiden mussten.
    „Wenn er hier drin ist“, sage ich, „ist er vielleicht zerstört, besudelt. Fass ihn erst an, wenn du dich überzeugt hast, dass er heil ist.“
    Uriel nickt grimmig, dann springt er leichtfüßig über das Absperrseil und auf den Stein. Er legt seine rechte Hand auf den Granit, greift hinein und ruft mit hallender Stimme: „Libera eum! “
    Nichts. Nur Sturmwolken, die von Nordosten herandrängen, und der einsame Schrei eines jagenden Vogels, der unter uns über das Tal hinwegsegelt.
    Uriel zieht seinen Arm aus dem Stein heraus, und ich beobachte, wie sein Unterarm, seine Finger, sich sekundenschnell wieder verdichten.
    „Ich nehme mir die Westseite vor“, sagt er schließlich. „Bis zu den unteren Terrassen. Und du nimmst diese Seite hier. Wir treffen uns in der Mitte, bei dem Haus ohne Dach, an dem wir vorhin mit Mateo standen.“
    Uriel stürmt – immer noch in Menschengestalt – im Laufschritt die Treppe hinauf und ist kurz darauf im sich wieder verdichtenden Nebel über mir verschwunden.
    Widerstrebend tauche ich selbst in den Nebel ein, der beinahe undurchdringlich ist, sogar für meine Augen. Das wolkige Weiß schwappt und strudelt um meine Knöchel herum wie eine Flut, zieht seine spinnwebähnlichen Fühler über mein Gesicht. Trapezförmige Türen und Fenster tauchen ohne Vorwarnung vor mir auf. Alle Geräusche sind in dieser dunstigen, brodelnden Atmosphäre gedämpft. Fast kommt es mir vor, als wäre ich das einzige Lebewesen hier.
    Dann setzt die Halluzination ein. Fetzen vergangener Leben, alte Dämonen, die mich durch die Gassen verfolgen. Ich höre Ezras Mann „Schlampe!“ und „Hure!“ rufen, dumpfe Schläge, die auf ihren Körper prasseln, Ezras qualvolle Schreie. Ich höre ein Baby wimmern, hoch und ganz schwach vor Hunger, und ich weiß, dass es Lucys Baby ist. Ich kann den Schreien nicht entkommen, egal wie schnell ich renne. Dann verliere ich den Halt und stolpere an einer Mauer, sehe die rote Farbe an den Wänden der Ruine – von Erde oder altem Blut – und Susannas Mutter brüllt mich an: „Du hast mein Leben zerstört, du kleines Miststück! Wärst du doch nie geboren!“ Aber als ich mich benommen aufrichte, von kalter Angst erfüllt, höre ich sie schluchzen: „Komm zurück! Bitte komm zurück! Ich hab’s nicht so gemeint, das weißt du doch! Ich bin krank, so krank.“
    Ihre Stimme verfolgt mich, während ich weiterstürze, bis ich auf allen vieren eine Treppe hinaufkrieche. Kaum ist die Stimme verhallt, höre ich Lauren leise flüstern. „Ich war in der Hölle. Und bin es immer noch. Du jetzt auch. Man gewöhnt sich daran!“, ruft sie hinter mir her. „Gewöhnt sich daran!“
    Verzweifelt torkle ich bergauf, laufe wie in Trance zu dem Ort, an dem ich Uriel treffen soll, um der Erinnerung zu entrinnen. Aber meine eigenen Worte holen mich jetzt mit Lelas sanfter Stimme ein: „Du kommst hier nicht lebendig raus, das ist dir doch klar?“
    Und einer der Toten erwidert bitter: „Ich weiß, aber du auch nicht.“
    Dann erschallt ein einzelner Gewehrschuss auf dem Gipfel des Machu Picchu, und das Geräusch ist so real, so nah, dass ein Hagelsturm von Gefühlen auf mich einprasselt. Fast stürze ich zu Boden, weil ich glaube, dass ich noch einmal erschossen wurde.
    Der Nebel wimmelt von Gespenstern. Wieder prallt eines an meinem festen Kraftfeld ab und zerbirst, dann noch eins und noch eins. Ich wirble herum, schlage um mich, versuche mich zu schützen. Meine Wärme zieht sie unwiderstehlich an.
    Dann lichtet sich der Nebel und vor mir ragt das dreiseitige Gemäuer auf. Ein geflügelter Mann steht davor wie eine mythische Göttergestalt, mit dem Rücken zu mir. Er trägt ein Gewand, das so strahlend ist, dass ich kaum hinsehen kann. Sein langes dunkles Haar wallt ihm über den Rücken. Ich bin überwältigt von Scham, Furcht und Erleichterung und laufe schreiend zu ihm: „Uri, Deo gratias! Uri!“
    Doch als er sich umdreht, sehe ich, dass es nicht Uriel ist. Seine Augen sind leuchtend blau und er trägt ein Flammenmal im Gesicht, so groß wie der Handabdruck eines Erzengels. Er ist strahlend schön und zugleich grausig entstellt, und sein Name schießt mir durch den Kopf: Jetrel .
    Sobald ich erkenne, was er ist, fallen mir Uriels Worte ein: Lass dich nicht irremachen. Rühr dich nicht . Da unsere menschliche Tarnung aufgeflogen ist, habe ich

Weitere Kostenlose Bücher