Mercy, Band 4: Befreit
überall und jederzeit erkennen würde. Aber sie ist verdorben, befleckt, wird von der Energie eines anderen beherrscht.
Besessen .
„Schamschiel!“, schreie ich und rapple mich hoch. Mir ist schlecht vor Horror. „Was hast du getan?“
Die Waffen in meiner Hand lösen sich augenblicklich in Lichtstäubchen auf. Stattdessen erscheinen zwei kurze Schwerter darin, die von denen in Ryans Hand nicht zu unterscheiden sind. Nur erglühen meine vom Griff bis zur Schwertspitze im klaren Blau des heiligen Lichts, während seine in einem fleckig trüben Grau schimmern.
Was Ryan jetzt durchmacht, muss entsetzlich sein, denn Schamschiels Hohnlachen dringt aus seinem Mund, das irre Licht seiner Augen glitzert in denen von Ryan. Ich schaudere, als wir uns mit erhobenen Waffen umkreisen. Wahrhaftig, ich kämpfe gegen ein Monster!
Der falsche Ryan leckt sich die Lippen auf so grausige, lüsterne Art, dass ich wegschauen muss, weil es mich in der Kehle würgt.
„Ich bin nur ein Menschenmädchen“, sage ich grimmig und starre ihm direkt in seine irren Augen, während ich meine Klingen drohend durch die Luft sausen lasse. Die Kurzschwerter, Schamschiels Lieblingswaffe, liegen mir schwer und unvertraut in der Hand.
„So kämpfe gegen mich, Mädchen!“, brüllt er. „Und zeig mir, aus welchem Holz du geschnitzt bist!“
Blitzartig greift er an, so übermenschlich schnell, dass seine rechte Schwertspitze meine Jacke zerfetzt, mir in die Haut ritzt, ehe ich zurückspringen kann. Die Wunde brennt wie Feuer.
Schamschiel greift erneut in Ryans Gestalt an und schwingt seine Klingen in weiten, hypnotischen Schleifen, wie der Sensenmann seine Sichel. Ich bin halb verrückt vor Angst und blocke mechanisch Hieb um Hieb ab. Grelle Blitze zucken auf, wenn unsere Klingen mit voller Wucht aufeinanderkrachen, und ich erlahme allmählich unter seinen geschmeidigen, zweihändigen Angriffen.
Ich bringe es nicht übers Herz, Ryan ernsthaft anzugreifen oder einen richtigen Schlag zu landen, denn die Hiebe tragen zwar eindeutig Schamschiels Handschrift, aber ich sehe dennoch Ryan vor mir – Ryans Körper, der blutet, wenn ich ihn verletze.
Was soll ich nur tun? , denke ich verzweifelt. Wie kann ich mich retten, ohne Ryan zu verletzen oder selbst verletzt zu werden?
Uriel! , schreie ich in den Äther. Aber es kommt keine Antwort. Er muss außer Reichweite sein, oder er ringt anderswo auf dem Berg mit seinen eigenen Dämonen.
Schamschiel rennt erneut in Ryans Gestalt gegen mich an. Er bleckt die Zähne, stößt mit der rechten Klinge nach meinem Gesicht und schwingt die linke gegen meinen Bauch. Ich bin so damit beschäftigt, seinen Hieben auszuweichen, dass ich nicht kommen sehe, was er vorhat: Ohne mich aus den Augen zu lassen, tritt er nach mir und reißt mir den Boden unter den Füßen weg. Ich knalle mit dem Hinterkopf auf den Fels, und er stürzt sich hohnlachend auf mich, bleckt seine glitzernden Zähne.
Verzweifelt werfe ich mich herum, lasse meine Umrisse verschwimmen, um mich außerhalb seiner Reichweite neu zusammenzufügen, wie Nuriel es mir in einem schmutzigen Kampf vorgeführt hat. Aber Schamschiel packt mein linkes Handgelenk und nagelt es mit seiner Schwertklinge auf dem Steinweg fest. Der Schrei, der mir entweicht, hallt schaurig von den Bergwänden wider, und die Erde bebt erneut, als fühlte sie mit mir.
Die beiden Waffen verschwinden in meinen Händen. Ich kann sie nicht mehr halten.
Schamschiels Klinge hält mich fest, sodass ich nicht wegdriften kann.
Ich blicke auf meine festgenagelte linke Hand, in der die Wunde wieder auflebt. Das quälende Feuer darin entzündet sich von Neuem, züngelt von den Fingerspitzen über meinen Handrücken aufwärts, dann über mein Handgelenk und meinen Unterarm wie etwas Lebendiges. Schön und zerstörerisch zugleich.
An Ryans entsetztem Blick erkenne ich, dass Schamschiel die Flammen bemerkt hat. Er denkt, ich bin eine Verbannte wie er selbst, aber eine Überläuferin, die Lucs Sache verraten hat. Fieberhaft überlegt er, wer von seinen gefallenen Brüdern oder Schwestern eine solche Narbe trägt. Er mustert mich, tastet mit den Augen Millimeter für Millimeter meine Haut ab, und obwohl es nur Sekunden dauert, erscheint es mir wie eine Ewigkeit.
„Wer bist du?“, keucht er schließlich und kauert sich neben mich. „Sag mir deinen Namen.“
Ich erstarre, als Ryan zu knurren beginnt und sich krümmt wie ein verwundetes Tier. Er zuckt unkontrolliert, seine Gesichtsmuskeln
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