Mercy, Band 4: Befreit
verliere das Bewusstsein.
Ryan zieht Schamschiels Klinge aus meinem Handgelenk, rüttelt mich an den Schultern, ruft meinen Namen und drückt mich an sich: Ryan – heil und unversehrt und wieder ganz der Alte.
Ich atme seinen vertrauten warmen Menschengeruch ein und murmle unwillkürlich: „Jubilate Deo.“
„Gut gesagt“, erwidert eine sanfte Stimme. „Gut gesagt.“
Verwirrt öffne ich die Augen und blicke in mein eigenes Gesicht, in mein wahres Gesicht. Benommen erkenne ich Uriel, der mich anlächelt. Er hat seine Engelsgestalt angenommen, und die Federspitzen seiner großen Schwingen schleifen auf dem Stein. Seine rechte Hand ruht auf dem großen Schwert, mit dem er Schamschiel niedergestreckt hat.
Meine Augen wandern langsam zu dem geflügelten Titanen, der neben ihm steht und in all seiner Glorie erstrahlt. Es ist der silberäugige, rothaarige Jeremiel.
„Sei uns willkommen, Schwester. Wir haben so lange auf dich gewartet“, sagt er freudig und seine Stimme lässt mich erschauern.
Neben ihm steht der dunkeläugige, dunkelhaarige Barachiel, dessen Reich der Blitz ist. Und tatsächlich zucken Blitze in den Falten seines strahlenden Gewandes und den langen, schmalen Federn seiner schimmernden Flügel. Er knurrt mich an, wie er es immer gemacht hat: „Auf die bösen alten Zeiten!“ Aber heute lächelt er dabei und ich lächle zurück.
Dann erblicke ich den vierten Engel und sofort kommen mir wieder die Tränen. Sie strömen über meine Wangen und meine Hände, die ich entsetzt vor den Mund geschlagen habe. Sein schimmerndes ärmelloses Gewand ist zerfetzt und beschmutzt, seine Flügel sind gebrochen und zerrissen, seine Alabasterhaut weist Spuren grässlicher Folter auf und aus seinen Wunden sickert Licht.
„Gabriel!“, schluchze ich.
Da beugt er sich herunter und nimmt meine Hände und sein Flammenhaar fällt ihm über die blasse Stirn in seine schmerzerfüllten smaragdgrünen Augen. Er schleudert es unwirsch zurück und zieht mich an sich.
„Weine niemals um mich, Mercy“, sagt er leise, weicht zurück und schaut mich lange an. „Jetzt, da wir endlich wieder vereint sind, soll nur Raum für Freude sein. In der Zeit, in der du uns verloren gingst, gab es genug Tod und Schmerz und Böses. Keine Tränen mehr, Mercy, ich bitte dich. Ich bin am Leben und was will ich mehr?“
Aber sein Lachen klingt rau, gequält.
Ich streiche über die Wunden auf Gabriels Handrücken, und als ich zu Ryan schaue, spiegeln sich Ehrfurcht, Staunen und Eifersucht in seinem Gesicht – ein wenig von allem, am meisten jedoch Eifersucht.
„Das sind meine Brüder“, sage ich leise, aber voller Stolz. Gabriel lässt mich los, richtet sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und stellt sich neben Barachiel.
„Nicht mehr, nicht weniger.“ Jeremiel wendet sich beinahe vorwurfsvoll an Ryan. „Denn wenn wir es nicht gut mit dir gemeint hätten, wärst du jetzt nicht heil und unversehrt.“
Gabriel macht eine abwehrende Handbewegung in Jeremiels Richtung und sagt zu Ryan: „Uns fehlen die Worte, um unsere Dankbarkeit, unsere Erleichterung auszudrücken, dass sie zu uns zurückgekehrt ist. Du hast getan, was Michael dir gesagt hat – du hast sie in dieser heillosen Welt am Leben erhalten. Wir stehen tief in deiner Schuld, und dass wir dich wiederhergestellt haben, ist nur ein kleiner Dienst im Vergleich dazu.“
„Was ist mit Michael?“, fragt Uriel die anderen und seine Flügel lösen sich in Luft auf. Im selben Moment verschwinden auch Jeremiels und Barachiels Flügel.
„Ja, richtig – gibt es Nachrichten von ihm?“, erkundigt sich nun auch Gabriel. Seine zerfetzten Flügel fangen das schwache Sonnenlicht ein, scheinen es zu halten und einen Augenblick zu verstärken, ehe sie sich auflösen.
„Lucs Streitkräfte sammeln sich in Panama“, erwidert Barachiel. „Sie planen irgendetwas Großes. Wie Semjasa mir kurz vor seinem Tod erzählt hat, wollen sie ein einziges großes Meer aus dem Pazifischen und Atlantischen Ozean machen, und der Kontinent dazwischen soll untergehen. Wenn Luc dort ist, werden Michael und Raphael nicht weit sein. Sie sind zu wertvoll für Luc, er wird sie nicht aus den Augen lassen.“
„Luc hat Michael eine ganz besondere Rache angekündigt“, erinnere ich die anderen leise und versuche, mein schmerzendes linkes Handgelenk zu bewegen. „Vielleicht war das sein Plan: eine Nation zu zerstören und ein neues Klima, eine neue Weltordnung zu schaffen. Er war schon immer sehr
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