Mercy, Band 4: Befreit
gespürt habe. Aber hier oben, auf den windgepeitschten Hochebenen, kämpft sich die Sonne endlich durch die Wolken durch. Und als ihre Strahlen über den Intiwatana-Stein wandern und dann über uns, sehe ich es: Wir sind zwar zu viert, aber nur zwei von uns werfen Schatten.
Uriel und ich wechseln betroffene Blicke.
„Die Inkas glaubten, dass der Stein die Sonne am Himmel hält. Wenn er Ihr Bruder ist“, erklärt Mateo, „dann ist er auch ein Sonnenwesen und an diesen Ort gefesselt.“
„Pah, Aberglaube!“, schnaubt Uriel und spricht damit aus, was ich denke. „Wie kann er hier sein? Ich spüre nichts.“
Doch plötzlich, wie auf ein Stichwort, beginnt die Erde zu rumpeln und zu beben, und ferne Schreie dringen an mein Ohr, das Donnern von Steinlawinen, das Scheppern von Dachziegeln, die in die Gassen hinunterstürzen. Ich höre Mateo und Ryan schreien, die sich verzweifelt auf den Füßen zu halten versuchen, während ringsumher die Welt einstürzt.
Und dann höre ich noch etwas: einen Laut wie knirschender Stahl, so hässlich, so durchdringend, dass es mir fast das Trommelfell zerfetzt. Verzweifelt halte ich mir den Kopf.
Uriel schnappt laut nach Luft, weil ihn der gleiche Schmerz durchfährt, als der kurze Laut noch einmal ertönt und dann noch einmal, immer wieder. Da kommt etwas, und zwar schnell. Ein ganzer Unheilsschwarm.
„Ryan!“, brülle ich über den Lärm der zerberstenden Welt und über den glühenden Schmerz in meinem Kopf hinweg. „Mateo! Bringen Sie Ihre Leute in Sicherheit! Sie müssen sie suchen und hier rausbringen.“
Mateo nickt, dreht sich schon um, aber Ryan zögert, will mich nicht im Stich lassen.
„Es könnte deine eigene Familie sein, Ryan – deine Schwester, deine Mutter, dein Vater!“, schreie ich. „Hilf ihnen! Lass nicht zu, dass das Böse triumphiert. Jeder von uns muss tun, was in seiner Macht steht.“
Und ich sehe, dass Ryan in einem einzigen Augenblick begreift, wozu ich viele Leben gebraucht habe.
Ryan und Mateo hasten die Treppe hinauf und schon wälzt ein dichter weißer Nebel auf das Plateau zu, auf dem ich mich mit Uriel verschanzt habe. Vor unseren entsetzten Blicken steigt der Nebel aufwärts , driftet an den Terrassen von Machu Picchu hinauf und verschlingt alles. Die Luft wird unnatürlich weiß mit einem hässlichen Graustich, der wie ein Ausschlag aussieht.
Dämonenzeichen . Uriels Stimme ist wie Feueratem in meinem Geist.
Im selben Moment huscht ohne Vorwarnung ein Gespenst aus dem Nebel hervor und springt auf das Plateau. Geisterhafte Haarflechten umflattern sein Gesicht, das einem Totenschädel gleicht. Die Kreatur reißt eine sternförmige Axt in die Luft und ihr Mund verzerrt sich zu einem endlosen Schrei. Ich erkenne die Umrisse des Menschen, der dieses Wesen einmal war, aber die Gesichtszüge sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt, lösen sich unablässig auf, um sich wieder neu zusammenzufügen, so wie der Nebel um uns herum.
Uriel und ich stehen zwischen dem Gespenst und dem Sonnenstein. Der Kopf der Kreatur bewegt sich unschlüssig hin und her, als wüsste sie nicht, wen von uns beiden sie zuerst mit ihrer Geisteraxt erschlagen soll.
Uriel legt einen Arm um mich und zieht mich an sich, als wäre er wirklich Gerry McEntee aus Johannesburg, Südafrika, und ich Estelle Jablonski aus Mississauga in Kanada, die sich zusammen im Nebel verirrt haben.
Lass dich nicht irremachen! , brüllt er in meinem Kopf. Rühr dich nicht!
Die Kreatur wirft sich auf uns, nein, durch uns, und ist im selben Moment verschwunden, für immer ausgelöscht von unserer besonderen Energie. Daemonium dieser Art haben keine Chance gegen uns. Wir fürchten nur die mit Gesichtern.
Dann quillt eine ganze Heerschar von Gespenstern über den Rand des Plateaus herauf, eine Armee von gewalttätigen, stumpfsinnigen Toten. Sie umzingeln uns wie eine wimmelnde Herde, die aus zerfetzter und zerfetzender Energie besteht. Sobald eines der Gespenster Uriel oder mich berührt, löst es sich auf, aber es bleiben noch Hunderte übrig. Jedes sieht anders aus, alle waren einst menschlich.
Dann schweben sie unversehens davon, verschwinden in den bebenden Gassen der Ruinenstadt, die einmal ihr Zuhause war. Ihre Münder sind zu stummen, gierigen Schreien verzerrt und den Nebel nehmen sie mit sich fort.
Als Uriel mich loslässt, liegt der Stein unverhüllt im schwachen Sonnenlicht und die Erde bebt nicht mehr.
Wir gehen langsam um den Stein herum, betrachten ihn, und ich erzähle
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