Mercy, Band 4: Befreit
auf und sehe, wie seine Augen sich verengen. Seine Nasenflügel beben und seine Lippen werden weiß. Bis ich begreife, was er vorhat, drückt er auch schon ab – und diesmal ist es kein Warnschuss. Die Luft vor mir lodert auf wie von tausend Sonnen.
Schreiend stürzen die beiden Männer zurück. Ich halte ein langes, flammendes Breitschwert in meiner Linken. Die Klinge erstrahlt in einem hellblauen Licht. Riesige, schimmernde Flügel entfalten sich auf meinem Rücken, fangen das Licht ein, entfachen es noch mehr. Ich blicke auf meine brennende linke Hand, die den Schwertgriff umfasst, mustere den kunstvollen Knauf, die Parierstange zwischen dem Griff und der zweischneidigen Klinge. Weiß ich noch, wie man ein Schwert schwingt? Die Waffe wiegt nichts und ist doch allmächtig, eine physische Manifestation meines Zorns, unbestreitbar mein Eigen.
Während ich auf das flammende Heft schaue, schlägt die Kugel in meinem Unterleib ein, wie in Zeitlupe, dringt mühelos zwischen zwei Druckknöpfen durch meine schwarze Daunenjacke. Der Stoff verschlingt das heiße Projektil und schließt sich sofort wieder darüber. Die Kugel hinterlässt keine Spur, keinerlei Wirkung. Aber wenn ich ein normales Menschenmädchen wäre, wie der Wachmann glaubt, dann wäre ich jetzt tot, erschossen wie Lela. Einen Augenblick überwältigt mich die Erinnerung, ein Déjà-vu, das so schrecklich ist, dass mir der Atem stockt. Mit aller Kraft muss ich mich zur Ordnung rufen, mir sagen, dass das hier eine andere Zeit und ein anderer Ort ist.
Ich richte die Spitze meines Flammenschwerts wie einen verlängerten Arm auf den Wachmann, der mich erschießen wollte. „Auf die Knie!“, donnere ich und meine Worte hallen mit tausendfachem Echo in der Luft wider. Entsetzt werfen sich die beiden Wachmänner auf den Boden, lassen ihre Waffen fallen und halten sich die schmerzenden Ohren zu.
„Wagt es noch einmal, Gewalt gegen mich auszuüben“, donnere ich, „und ihr werdet es büßen!“
Lautlos verschwindet das Schwert in meiner Hand, die schimmernden Flügel lösen sich auf und hinterlassen einen Nachglanz von wirbelnder zerstörerischer Energie. Ich stürze zu Ryan hinüber und sehe die schwarz gekleideten Priester auf dem Dach des Doms, die die Szene voller Entsetzen beobachten. Ihre Hände sind wie zum Gebet gefaltet.
Ehe Ryan etwas sagen kann, schlinge ich einen Arm um ihn, schwinge mich von der Terrasse herunter und fliege über die Via Santa Radegonda.
Ryan schreit, von nackter, kreatürlicher Angst erfasst, für die es keine Worte gibt. Wir landen holprig auf einem angrenzenden Dach, ich schlittere über die Steinbrüstung und verliere den Halt, sodass wir fast kopfüber in den engen Gang stürzen, der sich entlang der Fassade des Gebäudes erstreckt. Ich ziehe Ryan an seiner Lederjacke hoch und er würgt hervor: „Oh Mann, du bringst mich noch irgendwann um.“
Ich wage nicht zu antworten, weil er meine eigenen Gedanken ausspricht. Wortlos berühre ich sein Gesicht, um ihn zu beruhigen.
Auf der Piazza unten heulen die Sirenen, als hätten wir ein Wespennest aufgestört und als schwärmten die Wespen jetzt in alle Himmelsrichtungen aus. Mit einem Blick zum Dach des Duomo überzeuge ich mich, dass die Männer verschwunden sind. Wir haben die Kathedrale hinter uns gelassen und bald auch den Domplatz und das Chaos aus Rettungshelfern und Ordnungshütern, aus kreisenden Blaulichtern und Straßensperren.
Ich überlege gerade, ob ich einfach über die Dächer der Stadt weiterfliegen soll, als Ryan an mir vorbeitaumelt und nach links um die Ecke biegt. Überrascht folge ich ihm und knalle fast gegen seinen Rücken.
Mit blutunterlaufenen Augen dreht er sich zu mir um, das Gesicht blass vor Anstrengung. „Hier geht’s nirgends runter“, murmelt er, und ich höre die Angst in seiner Stimme. „Kein Weg nach unten. Ich kann das nicht, Mercy, ich bin nicht wie du. Ich weiß nicht, wie ich das noch länger durchhalten soll.“
Verzweifelt schaut er zum nächsten Gebäude hinüber und ringt heftig nach Luft. Er ist an seine körperlichen Grenzen gekommen, das sehe ich. Er kann sich kaum noch aufrecht halten, und nur mir zuliebe macht er die verrückten Aktionen mit, die ich ihm abverlange. Dabei ist mein Plan so löchrig wie ein Sieb.
Ich entscheide mich spontan und sage sanft: „Es gibt immer einen Weg nach unten.“
Weil ich keine andere Möglichkeit sehe, Ryan heil auf den Boden hinunterzubringen, ziehe ich ihn mit dem linken Arm fest an
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