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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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„Pietro?“, ruft er laut.
    „Los, Ryan, Tempo!“, zische ich und haste weiter. „Ich will nicht schon wieder eingesperrt werden.“
    Wir stolpern auf die Tür zu, die auf die untere Dachebene hinausführt, und treten unter dem steinernen Türsturz in den nördlichen Umgang hinaus. Sofort erfasst mich ein Schwindel, der so stark ist, dass ich mich an die innere Wand lehnen muss, während Ryan sich über den gähnenden Abgrund beugt. Ich warte, bis die Welt zu kreisen aufhört. Als mein Blick wieder klarer wird, sehe ich eine schwache rosa Linie am fernen Horizont, die sich stetig ausbreitet und das Dunkel der Nacht zurückdrängt. Vom Dach der Galleria steigt immer noch Qualm auf. Trotz der weiten Himmelskuppel über mir fühle ich mich wie eine Ratte im Käfig.
    „Wir müssen uns verstecken!“, flehe ich Ryan an.
    Ryan dreht sich nicht um, sondern starrt gebannt auf die Mailänder Altstadt hinunter, die sich tief unter ihm erstreckt. „Wir müssen uns erst orientieren, Mercy. Wir haben noch genug Zeit. Hier oben ist niemand und notfalls finden wir immer ein Versteck.“
    Er will mich zu einer Doppelreihe von kunstvoll gemeißelten Steinen ziehen, die aussehen wie Haifischzähne, eine Barriere, die uns von dem schwindelnden Abgrund trennt.
    „Jetzt schau doch mal!“, ruft er, beugt sich vor und blickt hinunter. „Das ist so schön. Und du fällst schon nicht. Ich bin doch bei dir.“
    Ich schüttle den Kopf, blicke ängstlich zu der Tür zurück, durch die wir gekommen sind. Aber Ryan fasst mich an den Händen, zieht mich vor sich und schlingt seine Arme so fest um meine Hüften, dass ich mich nicht rühren kann, geschweige denn fallen.
    Zärtlich schmiegt er seine Wange an meine und sagt: „So, und jetzt schau runter. Was dir angetan wurde, kannst du nicht ungeschehen machen, das weiß ich, aber immer wenn du deine Angst überwindest, sagst du ihm den Kampf an, forderst du ihn heraus.“
    Widerstrebend beuge ich mich vor, nur ganz kurz. Im ersten Moment muss ich die Augen schließen, weil mir beim Blick in den Abgrund gleich wieder schwindlig wird, aber nach einer Weile wird es besser. Ich betrachte das endlose Meer von regennassen Straßen und Gebäuden, die sich in allen Himmelsrichtungen zum Horizont erstrecken. Die Stadt breitet sich strahlenförmig von der Piazza del Duomo aus, als wäre die Kathedrale das Herz von Mailand.
    Zittrig drehe ich mich in Ryans Armen um und deute nach Norden zu der violetten Hügelkette, die sich im Winterlicht abzeichnet, auf die zerklüfteten Berggipfel dahinter. „Da müssen wir hin.“
    Plötzlich erscheinen drei Männer am anderen Ende des Umgangs, alle in schlichten, schweren schwarzen Gewändern und unförmigen Mänteln. Als sie uns entdecken, bleiben sie abrupt stehen.
    Jetzt bemerkt auch Ryan die Männer und seine Arme erstarren.
    „ State lì! “ Halt! Wir möchten mit Ihnen sprechen!, ruft der vordere, ein Priester, und streckt eine Hand nach uns aus.
    Mein Kopf füllt sich mit dem Summen ihrer unterschiedlichen Energien, ihrer unverkennbar menschlichen Signatur. Das Geräusch kommt näher, wird immer lauter und lauter, als sie auf uns zukommen. Ich blicke in den gähnenden Abgrund unter mir, und sofort erfasst mich das eisige Schwindelgefühl, die Angst, endlos zu fallen, ohne jemals am Boden aufzutreffen.
    „Che vuole con noi?“ Was wollt ihr von uns?, sagt der Priester.
    „Pietro? Bist du das?“, ruft ein Mann aus dem Treppenschacht.
    Wieder erfasst mich das Gefühl, dass alles zusammenströmt. Es wird immer stärker, steigert sich zu einer qualvollen Kakofonie, als die Männer auf uns zukommen. Alle senden auf unterschiedlichen Frequenzen, sind mit einer Vielfalt von Problemen beschäftigt, in ihren Gedanken lese ich Furcht, vermischt mit banalen Alltagsdingen.
    „Mercy!“, keucht Ryan. „Was machen wir jetzt?“
    Ich wirble zu ihm herum und packe ihn an den Armen.
    „Willst du das wirklich, sag!“, zische ich beschwörend. „Du und ich?“
    „Aber das weißt du doch“, erwidert er. „Warum fragst du mich das?“
    Dann schreit er auf, denn ich packe ihn mit aller Kraft unter den Armen und hieve ihn auf die Steinmauer. Wir wanken einen Augenblick auf der Stelle, während ich die ziegelgedeckte Dachschräge unter mir studiere.
    „Mercy!“, schreit Ryan, als er in den Abgrund starrt.
    Ich vollbringe das Unmögliche und balanciere auf der Stelle, stemme mühelos Ryans ganzes Gewicht hoch, obwohl ich keinen festen Boden mehr unter den Füßen

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