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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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habe – und er auch nicht.
    Aber solange Ryan bei mir ist, werde ich nicht fallen. Das hat er mir versprochen und daran glaube ich.
    Ich wende meinen Kopf für eine Sekunde, sodass der eisige Wind meine Locken aufwirbelt, und richte meinen Blick auf das Männertrio am anderen Ende des Dachs, dann auf den jungen Priester mit dunklen Augen und kurzen schwarzen Haaren, der gerade im Treppenschacht auftaucht.
    Dann blicke ich wieder nach vorne, fixiere unser Ziel. Mein Ziel. Es klingt seltsam, aber Verzweiflung und Liebe sind sich nicht unähnlich. Denn in der Verzweiflung vollbringt man Dinge, zu denen man normalerweise nicht fähig wäre.
    Aber ich bin, was ich bin, und habe folglich immer die Wahl.
    Also schwinge ich mich in die Luft, Ryan fest an meinen Körper gedrückt.
    „Mercy!“, brüllt er wieder, als er die Anziehungskraft der Erde spürt.
    Ich schlottere vor Angst – eine Angst, die meinesgleichen nicht kennen dürfte, und dennoch schieße ich hoch, der Schwerkraft und jeder Vernunft spottend.
    Freiheit. Nur das zählt. Freiheit und Ryan.
    Während ich den Abgrund überfliege, der uns vom nächsten Gebäude trennt, weiß ich, dass ich die personifizierte Macht bin. Ich bin wieder da.

Ich lande wie immer mehr schlecht als recht auf der Dachterrasse eines Cafés, die ich vom Dom aus gesehen habe. Beinahe reiße ich eine ganze Tischreihe um. Ein Stuhl wackelt und kippt laut scheppernd nach hinten. Es klingt wie eine Explosion.
    Ich kann kaum glauben, dass wir es geschafft haben. Wir sind auf der anderen Seite der Piazza und es hat nur Sekunden gedauert. Ich juble innerlich, bin wie berauscht und zugleich seltsam klar im Kopf. Ryan hatte Recht: Wenn ich meine Angst überwinde, ist das eine Kampfansage, eine Herausforderung, die mich nur stärker macht.
    Ich lockere meinen Griff um ihn und Ryan schwankt leicht auf der Stelle, stumm, fassungslos, dass er wieder festen Boden unter den Füßen hat. Ich blicke zum Dom zurück, wo fünf schwarz gekleidete Gestalten hinter der Steinbrüstung stehen. Die Männer fuchteln wild mit den Händen und diskutieren über uns. Der Jüngere, der aus dem Treppenschacht, läuft zum Umgang zurück und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Der ältere Priester starrt ehrfürchtig zu uns herüber.
    „Wo … sind wir?“, lallt Ryan, tastet nach einem Stuhl und setzt sich. „Sobald ich wieder klar denken kann, musst du mir erklären, was zum Teufel da gerade passiert ist. Ehrlich, Mercy, du schaffst es doch immer wieder, mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Im wahrsten Sinn des Wortes. Ich komme mir vor wie in einem Albtraum, aus dem …“
    „… du nicht erwachen kannst?“, beende ich leise seinen Satz. „Willkommen in meiner Welt.“
    Ryan betrachtet mich einen Augenblick, als wollte er sich mein neues Gesicht – mein Reisegesicht – Zug für Zug einprägen oder seinen Frieden damit machen.
    „Und? Geht’s wieder?“, frage ich besorgt. „Wir müssen weiter.“
    Ryan blinzelt, blickt sich auf der verlassenen Terrasse um und sieht plötzlich die Männer auf dem Dach gegenüber. „Verdammt, was machen wir noch hier?“, ruft er. „Wir müssen los!“
    Dann schrillt eine Alarmanlage, ich höre etwas klicken – ein Schloss oder einen Riegel – und eine Tür geht auf.
    Ich reiße erschrocken den Kopf herum: Ein Mann in Uniform betritt hinter Ryan die Terrasse. Er ist jung, mittelgroß, schmal, und sein fliehendes Kinn lässt ihn noch jünger erscheinen, als er vermutlich ist. Er atmet schwer unter seiner Schirmmütze und richtet fahrig ein Gewehr auf mich.
    Der Typ mustert uns. Ich fange ein paar Fetzen seiner panischen, widersprüchlichen Gedanken auf. Diebe? , denkt er. Oder Terroristen?
    „Man hat ihm was von einem Terrorakt gegen die Galleria erzählt, und jetzt denkt er, dass wir bewaffnet sind“, sage ich laut. Ryan rührt sich nicht vom Fleck.
    „Polizei!“, brüllt der Wachmann auf Englisch mit starkem italienischem Akzent über das Schrillen der Alarmanlage hinweg. „Nehmen Sie die Hände hoch!“
    Ich spüre seine Panik. Er ist erst seit ein paar Monaten hier angestellt, und seine Schicht wäre in exakt zweiundzwanzig Minuten zu Ende gewesen, wenn ihm sein Chef nicht befohlen hätte, dem Gefasel von ein paar Priestern auf dem Dach der Kathedrale auf den Grund zu gehen. Das alles filtere ich aus dem weißen Rauschen in seinem Kopf heraus, auch seinen Namen, denn er spricht in der dritten Person von sich, schreit sich Befehle zu. Menschen sind

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