Mercy, Band 4: Befreit
mich, halte ihm mit der rechten Hand den Mund zu und schwinge mich über den Rand. Dann geht es abwärts, immer weiter nach unten, in die Via Agnello. Ryan brüllt wie am Spieß in meine Hand, während wir lautlos vom Himmel stürzen.
Ich zähle sechs Stockwerke auf dem Weg nach unten. Hinter den Fenstern, an denen wir vorbeischießen, sehe ich Verkaufsräume voll Waren, Schaufensterpuppen und Möbel, aber sonst ist alles wie ausgestorben. Die Läden in der Mailänder Altstadt haben zum Glück noch nicht geöffnet. Aber in spätestens einer Stunde werden sich Menschenmassen in den Dom wälzen, auf die Piazza, in die umliegenden Geschäftsgebäude, die vom Feuer verschont geblieben sind, von der Tragödie, vom Tod – denn das Leben geht weiter. Was bleibt ihm auch anderes übrig? Auf jeden Fall müssen wir uns beeilen.
Der einzige Mensch auf der Straße ist eine Frau mit schulterlangen dunklen Locken in einem modischen Tweedmantel, engen Jeans und beigen Stiefeln. Als ich unten ankomme, stolpere ich gegen ein geparktes Fahrrad. Scheppernd kippt es um und die Frau dreht sich zu uns um. Ryan und ich klammern uns aneinander wie zwei Betrunkene. Sie starrt eine Weile zu uns herüber, bevor sie sich umdreht und langsam weitergeht. Ihr Gang hat etwas Steifes, Ruckartiges, als hätte sie Gelenkprobleme, und dabei ist sie höchstens um die dreißig.
Ich nehme meine Hand von Ryans Mund und er brüllt mich an: „Mach das nie wieder, oder …“ Dann lässt er die Schultern sinken und fügt leise hinzu: „Aber du denkst wohl, du kannst dir alles erlauben, was?“
„Was soll ich machen?“, murmle ich. „Für mich ist das doch auch alles Neuland. Schon allein weil du dabei bist. Bis jetzt hab ich mich immer allein durchgeschlagen. Und ich hab weiß Gott selber genug …“
„Anpassungsschwierigkeiten?“, murmelt Ryan. „Koordinationsprobleme?“
„Ja, so ungefähr“, sage ich zerknirscht. „Hast du es bemerkt?“
„Na klar doch, aber ich dachte, es liegt an mir. Dass ich dich behindere.“ Sein Lachen verwandelt sich in einen Hustenanfall.
Ich schüttle ihn sanft. „Wir bewegen uns jetzt mal eine Weile auf deine Art fort, okay? Und als Erstes suchen wir einen Platz für dich, wo du ausruhen kannst und in Sicherheit bist.“
Ryan schwankt leicht. „So kalt“, sagt er schlotternd.
Ich schaue in die Ferne. Die Via Agnello mit ihren Pizzerien und öffentlichen Parks, ihren billigen Souvenir-Shops und Männermodeläden hat ganz anders ausgesehen, als ich das letzte Mal hier war. Trotzdem weiß ich mit schlafwandlerischer Sicherheit, wo wir sind und wo wir hinmüssen. Ich zeige auf die schmale Einbahnstraße, in die Richtung, in die die Frau gegangen ist.
„Kannst du noch?“, frage ich Ryan aufmunternd. „Wir sind gleich da.“
Das ist eine faustdicke Lüge. Wir müssen einen langen Umweg machen, um dem Chaos um die Galleria herum zu entgehen, aber das braucht Ryan nicht zu wissen. Und die Zeit drängt. Die Straßen hier sind ein undurchdringliches, jahrhundertelang gewachsenes Labyrinth, aber bald werden trotzdem Menschenscharen anrücken, um nach Spuren der verrückten turisti zu suchen, die sich von der Dachterrasse eines der renommiertesten Mailänder Kaufhäuser gestürzt haben. Die Leute werden nach Leichenteilen Ausschau halten. Es ist nur eine Frage der Zeit.
Ryan schließt die Augen, er zittert heftig unter seinen Kleidern. „Warum hast du mir nicht gesagt, dass du noch lernst?“, murmelt er. „Dass du so eine Art Erzengel-Azubi bist? Das kann verdammt ungemütlich werden.“
„Du kannst dich jederzeit ausklinken“, erinnere ich ihn leise.
Ryan hustet, öffnet die Augen, und ich sehe, dass sein Blick verschwimmt. „Kann nicht“, stößt er hervor. „Weil man seinem Schicksal nicht entkommen kann.“
Ich schüttle ihn, entsetzt über seine Worte. „Ich bin nicht dein Schicksal, Ryan. Du hast dich aus freien Stücken für mich entschieden! Vergiss das nicht, auch wenn du vielleicht bald die Hölle auf Erden erlebst.“
Ich weiß nicht, ob er mich noch hören kann. Ich lege mir wieder seinen Arm über die Schulter und wir stolpern weiter, hinter der Frau her, die eine gestreifte Tasche an sich drückt, als enthielte sie allen Kummer der Welt. Ich fange nichts von ihr auf, keinerlei Gedankenströme, zum Glück, denn im Augenblick spüre, rieche und schmecke ich nur noch Ryans abgrundtiefe Erschöpfung. Er starrt benommen auf den Boden unter seinen wackligen Füßen und zittert am
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