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Mercy, Band 4: Befreit

Mercy, Band 4: Befreit

Titel: Mercy, Band 4: Befreit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilse Rothfuss
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ganzen Körper. Ohne mich wäre er längst gestürzt. Er braucht Ruhe, Wärme, Wasser, Essen – lauter Dinge, die ich ihm nicht geben kann. Die Zeit läuft uns davon, aber wenn wir uns nach Menschenart vorwärtsbewegen so wie jetzt, brauchen wir natürlich sehr viel länger.
    Ich zerre Ryan unbarmherzig weiter, wärme seine eisigen Hände in meiner. Mit leiser, aufmunternder Stimme beschreibe ich die Gebäude, an denen wir vorbeikommen, und suche dabei unablässig die Dächer nach Dämonenzeichen ab. Ryan reagiert bald nicht mehr auf mein Geplapper und meine Verzweiflung wächst.
    Schließlich biegen wir nach rechts in die Via Ulrico Hoepli ein, und ich nehme hinter den Fenstern der oberen Stockwerke Bewegung wahr. Mailand, die Stadt der Spätaufsteher, erwacht endlich.
    Ich biege in die Via San Paolo ein, Ryan fest an mich gedrückt, aber seine Füße schleifen kraftlos neben mir her. Wir passieren das obere Ende der Piazza della Scala und ich fange ein heilloses Chaos von menschlicher Energie auf – Gedanken in zahllosen Sprachen, Emotionen, die sich immer weniger ausblenden lassen, je näher wir kommen, deren Timbre, Lautstärke und Komplexität sich ständig vervielfacht.
    Dann sehe ich die kreischende Menge, die sich um eine Polizeisperre am südlichen Ende des Platzes drängt, und einen noch größeren Menschenauflauf um eine andere Straßensperre an der Westseite.
    Und noch etwas nehme ich auf der anderen Seite der Piazza wahr, sodass ich abrupt stehen bleibe. Ryan sinkt erschöpft gegen mich, die dunkle Haarsträhne fällt ihm wieder in die Augen. Ich betrachte die Nordfassade der Galleria Vittorio Emanuele, jenes Gebäude, um das wir wohlweißlich einen großen Bogen gemacht haben. Zwei riesige Stoffbanner flankieren den gewaltigen Torbogen, einen der Haupteingänge der Einkaufspassage. Das linke Banner ist stark beschädigt, sodass man kaum das sexy Model mit dem verschleierten Blick und der turmhohen Bienenkorbfrisur erkennen kann, das ein Abendkleid im Sechzigerjahre-Stil trägt, im typischen „rosso Re“, dem Markenrot von Giovanni Re. Aber das rechte Banner ist noch heil und zeigt die machtvolle Gestalt einer mythischen Kriegerin mit wildem, offenem Haar, das in einem wunderschönen Karamellbraun schimmert. Die Kriegerin trägt ein langes, fließendes Goldlamé-Kleid, ihre Hände umfassen den Griff eines juwelenbesetzten Schwerts. Fassungslos starre ich in Irinas große schwarz geschminkte Augen, und mir wird ganz schwindlig. Es ist, als würde ich mich selbst in einem Riesenspiegel betrachten, denn ich habe Irinas Körper doch erst vor wenigen Stunden verlassen.
    Ich deute es als Zeichen, dass ich das Richtige tue.
    Die Luft riecht verbrannt. Wenn ich mich konzentriere, nehme ich sogar den Aschegeschmack darin wahr.
    Als ich mit Ryan an der Straßensperre zur Via Santa Margherita vorbeistolpere, fuchteln die Polizisten dahinter mit den Armen und brüllen „Zurück! Zurück!“ auf Italienisch und Englisch, um die Gaffer zu vertreiben.
    Wir sind jetzt in einer Straße mit hohen, eleganten Gebäuden, in denen Banken und Versicherungen ihre Büros haben. Ab und zu überholen uns Passanten und bedrängen mich mit ihren Gedanken, ihren ziellos streunenden Energien. Die Frau mit der gestreiften Tasche ist jetzt nur noch wenige Meter vor uns. Das Gehen fällt ihr so schwer, dass wir sie schließlich überholen.
    „Jetzt ist es nicht mehr weit“, sage ich zerstreut zu Ryan und werfe im Vorbeigehen einen Blick auf das Gesicht der Frau, auf ihre erloschenen, aber jugendlichen Züge und die seltsam trüben blauen Augen.
    Erst als wir ein paar Meter von ihr entfernt sind, wird mir klar, dass an der Frau etwas nicht stimmt. Ihr schlurfender Gang, wie der einer Greisin, passt nicht zu der glatten Haut, dem glänzenden Haar, der kräftigen Gestalt und modischen Kleidung. Ich bleibe stehen, blicke über die Schulter zu ihr zurück und wundere mich, dass ich gar nichts auffange – weder ihre Gedanken und Gefühle noch den leisesten Hauch ihrer menschlichen Lebensenergie. Stattdessen spüre ich etwas anderes, ganz schwach nur, aber hartnäckig und irgendwie fast … vertraut. Es löst ein fernes, nahezu schmerzliches Summen in meinen Knochen aus.
    Und plötzlich stürzt die Frau auf den Gehsteig. Etwas Helles, Schimmerndes schießt aus ihr heraus. Im Zickzack schnellt es zwischen den Häuserfassaden, Straßenschildern und Kanaldeckeln herum und verschwindet dann in die Richtung, aus der wir gerade gekommen

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